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www.rhetorik.ch aktuell: (6. Dezember, 2004)

Wo sind die Grenzen der Kunst?



Braucht es einen Ehrenkodex für Künstler? Eine Ausstellung des Berner Künstlers Thomas Hirschhorn im "Centre culturel Suisse" in Paris verursachte am 6. Dezember einen Wirbel. Bürgerliche Politiker und Teile der Bevölkerung sind schockiert über das dargestellte Schweiz-Bild. "Pro Helvetia" distanziert sich zwar von Angriffen auf Bundesrat Blocher, steht aber zum Projekt.

Was war geschehen? Der Kulturschaffende Hirschhorn schreckte nicht davor zurück, in einem Theaterstück Wilhelm Tell zu demontieren. Auf der Bühne erbricht sich eine Schauspielerin in eine Abstimmungsurne und ein Darsteller uriniert symbolisch in der Pose eines Hundes gegen ein Bild des SVP-Bundesrates Christoph Blochers.

Aus der französischen Hauptstadt wird berichtet, dass die Hirschhorn Ausstellung die Grenzen des Zumutbaren sprenge. Der Künstler selbst sagte, dass er in Paris mit seinem Projekt "Swiss Swiss Democracy" gegen die "Absurdität der direkten Demokratie" protestiere. Hirschhorn im Schweizer Radio DRS:

"Jeder benutzt sie, das geht von Bush bis zu den Chinesen, und die Schweiz mit ihrer direkten Demokratie, die denken sie hätten sie erfunden".


Da wolle er einhaken, möchte sie überdenken und er sehe das alles eben nicht so.


Gibt es Grenzen des guten Geschmacks? Haben Künstler tatsächlich grenzenlose Narrenfreiheit? Keine Frage: Sie dürfen in Frage stellen. Sie dürfen provozieren. Hirschhorn darf gewiss in Paris auch die direkte Demokratie hinterfragen und zur Diskussion stellen. Was hingegen viele die Köpfe schütteln lässt, ist die Art, wie er das tut: Die Einladung zum Werk von Hirschhorn steht auf Karten, die ein Bild des irakischen Foltergefängnisses Abu Ghraib zeigen, darunter die Wappen der drei Urkantone Uri, Schwyz und Unterwalden versehen mit der Aufschrift "I love democracy". Weiter sind im Centre culturel Suisse in Paris Hunderte von Zeitungsausschnitten zu sehen, die mit einem dicken braunen Klebeband zu Collagen zusammengefügt sind.


"Seit über 60 Jahren ist die Schweizer Kulturstiftung "Pro Helvetia" für die kulturelle Darstellung der Schweiz im Ausland, für den kulturellen Dialog zwischen den verschiedenen Landesteilen sowie für die Förderung der Künste im überregionalen Zusammenhang zuständig" schreibt die Kulturstiftung. Sie wird deswegen vom Bund finanziell unterstützt. Es wurde gefragt, ob der Bund derartige fragwürdige Aktionen auch noch mit Bundesgeldern unterstützen soll.

Es ist nicht das erste Mal, dass es zu Auseinandersetzungen über die Art und Weise gibt, wie Pro Helvetia die Schweiz im Ausland darstellt. Nicht wenige fordern gar die Auflösung der Stiftung. Zum jüngsten Eclat, der Hirschhorn-Performance, meinte SVP-Präsident Ueli Maurer gegenüber Radio DRS:

"Da geht man zu weit. Pro Helvetia habe den Auftrag, im Ausland Werbung für die Schweiz zu machen und nicht das Gegenteil. Es gibt für mich wohl keine andere Institution, die sich selbst so blöd hinstellt, wie das Pro Helvetia tut."


Auch die Präsidentin der ständerätlichen Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur, Christiane Langenberger, meinte an selber Stelle:

"Die Demokratie in einer Ausstellung im Ausland so zu kritisieren, finde ich fragwürdig."


Die Darstellung mit Blocher sei für sie geschmacklos. Der Künstler Hirschorn selber war ein bekennender Gegner der Wahl von Christoph Blocher zum Bundesrat. So lange der Bundesrat sei, werde er in der Schweiz nicht mehr ausstellen, liess er verlauten.

Es ist noch nie gut gewesen, Künstler zu zensurieren, Bilder oder Bücher zu verbrennen. Es stellt sich aber die Frage, ob persönlichkeitsverletzende Aktionen unter dem Schutzmantel der Kunst toleriert werden müssen. Menschenverachtende Äusserungen oder fremdenfeindliche Darstellungen werden dank dem Antirassismusgesetz zurecht sofort hart bestraft. Dürfen Künstler tatsächlich alles sagen, darstellen, demonstrieren und schreiben? Müssten nicht auch Künstler ethische und religiöse Regeln akzeptieren? Ist es inkonsequent, wenn ein Künstler vom Land bezahlt wird, das er verspottet? Beim Journalismus gibt es einen Ehrenkodex. Müsste es nicht auch einen Ehrenkodex für Künstler geben?


Die "Schweizer Kulturstiftung" selber nahm zum umstrittenen Projekt Stellung. Sie distanzierte sich von allfälligen persönlichen Angriffen auf Bundesrat Blocher, steht aber zum Projekt. Sabina Schwarzenbach, Leiter Kommunikation von Pro Helvetia, sagte gegenüber swissinfo, dass auch für Pro Helvetia die Kunst Menschenrechte und Menschenwürde nicht verletzen dürfe. Das sei in Paris nicht geschehen. Schwarzenbach:

"Es ist keine Ausstellung gegen Blocher. Bei der Kulturstiftung gibt es keine Zensur. Wir sind per Dekret eine unabhängige Institution."


Auch Thomas Hirschhorn habe ein Konzept vorgelegt. Niemand habe aber verlangt, dass er das ganze Projekt in jedem Detail vorlegen müsse.

"Vieles entstand beim Künstler spontan und vor Ort in Paris."


Auch müsse sich die Ansicht eines Künstlers oder einer Künstlerin nicht mit den Ansichten von Pro Helvetia decken. Das sei eben eine Konsequenz der Demokratie. Der Direktor von Pro Helvetia Pius Knüsel sagte:

"Klar stellt sich die Frage, ob ein Künstler in die Hand beissen darf, die ihn füttert."


Auch Bundesrat Couchepin sieht keinen Grund zum Handeln. Wir gehen nicht davon aus, dass Couchepin - als Gegenspieler Blochers - Freude an der "Bepinkelung Blochers" hat. Es ist verständlich, dass er "seine" "Pro Helvetia" verteidigen muss. Die von Couchepins Departement alimentierte "Pro Helvetia" hat die für die Ausstellung 180'000 Franken versprochen. Auch für Couchepin ist die Freiheit der Kunst in der Schweizer Verfassung verankert.

Bei der Expo kam es zu einer ähnlichen Diskussionen wie im jüngsten Fall. Auch jetzt zeigt die Sache, dass Kultur polarisieren kann. Gewiss besteht nun die Gefahr, dass jene Gruppen Aufwind erhalten, die das Budget für die Kultur beschneiden möchten. Das wäre schade.

Die Organisatoren sagen heute Abend bereits: Der Künstler hat das Ziel erreicht. Sie berichten stolz: Es gab einen Skandal. Alle reden davon. Es gibt nun hohe Besucherzahlen, Analog zu den Einschaltquoten wird dies zum Qualitätsmerkmal. Ein Verbot der Ausstellung oder gar eine Bestrafung des Künstlers ist unwahrscheinlich, (wäre wahrscheinlich auch kontraproduktiv und weitere Werbung). Es wird interessant zu sehen, ob die Hand, die den Künstler gefüttert hat, noch ein weiteres mal ausgestreckt wird.

Thomas Hirschhorn wurde 1957 in Bern geboren. Er absolvierte 1978-83 die Schule für Gestaltung in Zürich. Er gilt als einer der international erfolgreichsten Künstler der Schweiz. NZZ Folio: "Mit seinen Altären, Kiosken und Monumenten für Philosophen und Schriftsteller geht Hirschhorn vom Museum auf die Strasse." Hirschhorn lebt und arbeitet in Paris.


Links zum Thema:


Nachtrag vom 7. Dezember 2004: Die Provokation scheint Folgen zu haben: der Ständerat bestraft die Pro Helvetia.

Die Kleine Kammer goutierte die Ausstellung des Schweizer Künstlers Thomas Hirschhorn in Paris nicht und griff zum Rotstift.

Der Ständerat hat heute eine Strafaktion gestartet. Und der Pro Helvetia für das Budget 2005 glatt eine Million gestrichen. Der Zuger CVP-Abgeordnete Peter Bieri sprach im Namen der bürgerlichen Mehrheit: Mit der Kürzung auf 33 Millionen Franken soll ein klares Zeichen gegen dieses mit Steuergeldern unterstützte "primitive und menschenverachtende" Machwerk gesetzt werden.

Eine Minderheit hingegen warnte vor einer emotionalen Strafaktion im Rahmen einer Budgetdebatte. Die Ausstellung von Hirschhorn sei zwar geschmacklos, "unsere Demokratie ist jedoch gefestigt genug, dass wir auch einen Hirschhorn verkraften können", meinte etwa der Solothurner SP Ständerat Ernst Leuenberger.

Pro Helvetia äusserte sich nicht zu dem Entscheid des Ständerates sagen. Ohnehin sei die Entscheidung noch nicht definitiv, auch der Nationalrat müsse das noch absegnen, sagte Direktor Pius Knüsel.




Nachtrag vom 9. Dezember, 2004: Hirschhorn könnte Pro Helvetia zum Verhängnis werden Der Skandal könnte für Pro Helvetia weitere Folgen haben. Die CVP setzt ihr Powerplay gegen Stiftungspräsidentin Yvette Jaggi fort und fordert eine Untersuchung. Unter den Fittichen der CVP war die Welt in Ordnung: Vor der ehemaligen Lausanner Stadtpräsidentin und SP-Ständerätin Yvette Jaggi war die Pro Helvetia lange in CVP-Hand. Jaggi löste die ehemalige Ständerätin Rosemarie Simmen als Stiftungspräsidentin ab. Es ist verständlich, wenn nun die CVP den Wirbel um die Hirschhorn-Ausstellung im Pariser Centre Culturel Suisse als Beweis nutzt, um zu beweisen, dass die Simmen-Nachfolgerin versagt hat. Ein alter Machtkampf soll nun zum Pyrrhussieg für Jaggi werden: Vor anderthalb Jahren wies sie ihren Direktor Pius Knüsel erfolgreich in die Schranken. Knüsel wollte Michel Ritter, den Leiter des Pariser Centre Culturel, feuern. Ritter blieb, dafür lief sein ganzes Team davon. Und jetzt hat er den Schlamassel um Skandal-Künstler Thomas Hirschhorn zu verantworten, der die Pro Helvetia eine Million Budgetkürzung kosten soll.

Das Spiel gegen die Spitze von Pro Helvetia geht nun auf einer anderen Ebene weiter: CVP-Nationalrat Pierre Kohler wird in der Sitzung der Finanzkommission am nächsten Montag eine unabhängige Untersuchung der Aktivitäten der Kulturstiftung und der gesetzeskonformen Verwendung der Bundesgelder verlangen. Kohler selbst ist gegen die Disziplinierung durch eine Budgetkürzung. Klar ist für ihn aber:

"Das Parlament muss wissen, wie öffentliche Gelder von den Empfängern eingesetzt werden."




Nachtrag vom 14. Dezember: Kürzungsantrag

Nachdem der Nationalrat die "Strafaktion" knapp abgelehnt hatte, blieb der Ständerat beim Kürzungsantrag.

Wir wunderten uns über die Windfähnchen-Rhetorik einzelner Parlamentarier. Es geht uns nicht um das Für oder Wider der "Strafaktion". Doch störte uns die Aussage des Ständerates Fritz Schiesser. Es liess verlauten zuerst emotional gehandelt zu haben. Nun habe er überlegt und sei zum Schluss gekommen, dass man auf die Kürzung verzichten müsse. Die Meinungswechslerin Christiane Langenberger hatte immerhin eine bessere Begründung. Tatsächlich darf jede Person nachträglich die eigene Meinung ändern und "gescheiter" werden, sofern es neue Gründe gibt oder die eigenen Argumentation auf schwachen Beinen steht. Was uns stört, ist die Aussage Schiessers:

"Ich habe nachträglich überlegt!"


Wir sollten immer zuerst überlegen und dann handeln! (Dies gilt auch beim Reden!) Wenn Parlamentarier in Krisensituationen - bei fundamentalen Fragen - "kopflos" und unbedacht entscheiden und erst nachträglich überlegen, könnte dies gravierende Folgen haben.

Pro Helvetia soll für die umstrittene Ausstellung von Thomas Hirschhorn in Paris mit einer Budgetkürzung von 180'000 Franken gebüsst werden. Dies schlägt die Einigungskonferenz den Räten vor. Beide Kammern müssen darüber entscheiden.




Die Kürzung um 180'000 Franken entspricht genau dem Betrag, mit dem die Kulturstiftung die Ausstellung im Cente Culturel Suisse unterstützt hat. Der Ständerat wollte den Kredit von 34 Millionen um ganze Million kürzen, weil zentrale Werte der Schweiz mit Füssen getreten würden. Dagegen legte der Nationalrat sein Veto ein. Auch über eine Reihe weiterer Divergenzen beim Budget 2005 musste die Einigungskonferenz beschliessen. Es ist anzunehmen, dass beide Räte ihrem Antrag zustimmen werden. Der Voranschlag schliesst nach sda mit einem Defizit von rund 1,8 Milliarden Franken ab und hält die Vorgaben der Schuldenbremse knapp ein.




Nachtrag vom 16. Dezember: Die Million wird endgültig gestrichen.

Das Parlament hat entschieden, dass Pro Helvetia wegen der Hirschhorn-Ausstellung 1 Mio Franken weniger erhät. Pro Helvetia bedauerte verständlicherweise diesen Entscheid. Der Ständerat hat den Vorschlag der Einigungs-Konferenz abgelehnt, der Stiftung 180'000 Franken zu streichen. Soviel kostete die Hirschhorn-Ausstellung. Die Geschichte hatte zu Diskussionen und Debatten zum Thema:

"Was darf Kunst, wenn sie vom Bund unterstützt wird? Gibt es bei der Kunst gar keine Grenzen?"


Anlass gegeben. Der Streit um die Strafaktion gegen Pro Helvetia führte am Donnerstag noch dazu, dass sich die beiden Parlamentskammern beim Budget 2005 im Umfang von 52 Mrd. Franken nicht einig wurden.

Nachlese: Nach unserem Dafürhalten ist bei jeder Auseinandersetzung immer Gelassenheit und ruhiges Überlegen gefragt. Bei der Thematik Kunst, Kritik und Kosten ( vgl. Marthaler) und der Frage nach allfälligen Grenzen von Provokationen, Beleidigungen und ausfälligen Bemerkungen dürfen gewiss alle Beteiligten Fragen stellen: die Geldgeber und Geldempfänger, Politiker und Künstler, die Medien und die Bevölkerung. Viele Parlamentarier handelten übereilt, unbedacht und manöverierten sich in einen plumpen Aktionismus.

Fatal war auch, wie unbedacht die Kulturszene auf den Entscheid reagierte: Die Empörung liess jegliche Proportion vermissen. Pro Helvetia Präsidentin sprach von Zuständen wie in der ehemaligen DDR. Kulturschaffende beschworen gar Bilder von Scheiterhaufen und Nationalsozialismus herauf.

Auch den Kulturschaffenden wäre etwas mehr Gelassenheit gut angestanden. Durch ihre unbedachte Reaktion wurden die Fronten nur noch zusätzlich verhärtet und der Ständerat war nicht mehr bereit, seine Position zu verändern.

Wenn bei Provokationen reagiert wird, gewinnt in der Regel der Provokateur. In diesem Fall Hirschhorn. Nach diesem Eklat kann er sich bereits heute zusätzlicher Kultur- und Kunstpreise gewiss sein.


Nachtrag vom 19. Dezember 2004: Leserbriefstimmen. In verschiedenen Leserbriefen bestätigen Leserbriefe, dass die Bevölkerung kein Verständnis hat für die subventionierten Provokation.

So schreibt etwa Nils Leuzinger:

"Offensichtlich sind dort die künstlerischen Fähigkeiten derart dürftig, dass niemand ausser der Vater Staat bereit ist, dafür Geld auszugeben."
Sonja Daeniker-Pfister schreibt in der "NZZ am Sonntag" vom 19. Dezember:

"Unserer Bundesräte dürfen vielleicht virtuell bepinkelt werden. Was aber, wenn das Bild einen Schwarzen gezeigt hätte? Wäre dann das Rassismusgesetz (auch bei der Kunst) zum Zuge gekommen? Fragen hatte ich auch beim Kunstskandal von 1991. Damals las ein Autor in Klagenfurt "Ich bin ein Babyficker". Da lag ein Mann im Bett, umgeben von Wäschekörben voller Babys. Wozu er sich eines ums anderer ergriff, konnte man hören und später lesen. Die bestehende Jury erklärte sich zwar nicht einverstanden mit dem Inhalt, belohnte aber das Werk mit einem Preis."


In verschiedenen Briefen werden Fragen gestellt wie z.B: Was wäre geschehen, wenn Micheline Calmy-Rey virtuell angepinkelt worden wäre? Ist bei der Kunst tatsächlich alles möglich? Dürfen in der Satire und Kunst Tabus gebrochen werden, die sonst im Alltag geahndet werden müssen?


Reflexion in der Weltwoche:

Daniel Binswanger schreibt in der Weltwoche (50/04) unter dem Titel "Zwischen Ödnis und Grand-Guignol" ausführlich über den Hirschhorn Mediensturm:

Wer sich am Samstagabend unter das Pariser Vernissagen-Publikum gemischt hat, wäre niemals auf die Idee gekommen, dass der gutbesuchte Kunstevent einen voralpinen Föhnsturm der Entrüstung nach sich ziehen könnte. Michel Ritter, der Direktor des Centre Culturel Suisse, meinte beim Aperitif gemütlich, er habe schon einige politische Ausstellungen fern der Heimat und vollkommen unbeachtet über die Bühne gehen lassen und auch diesmal werde es nicht anders kommen. Selbst der Dauerprovokateur Thomas Hirschhorn war über die Medienlawine, die am Montag über ihn hereinbrach, nicht nur sehr erfreut, sondern auch völlig überrascht. Die beiden Komparsen sind zu ihrem Skandal gekommen wie die Jungfrau zum Kind: ein Mirakel.


Um die tiefschürfendste Frage, an der dieser Tage die kulturelle Selbsteinschätzung der Schweiz zu hängen scheint, gleich vorab noch einmal zu klären: Der Urinstrahl, an dem sich das Lager der Patrioten und der Subversiven scheidet und der nach wiederholten Medienberichten auf ein bundesrätliches Konterfei gerichtet worden sein soll, hat niemals existiert. Es stimmt zwar, dass bei der Tell-Verulkung, die als theatralisches Nebenprogramm fester Bestandteil der Ausstellung ist, irgendwann mit einer grossen Blocher-Abbildung hantiert wird und dass irgendwann einer der Schauspieler wie ein Hund das Bein hebt und pantomimisch andeutet, auf das Bild zu pinkeln. Das ganze wirkt jedoch etwa so anstössig wie Chris von Rohrs Kommentare als "Music-Star"-Experte. Und etwa auch so geistreich.


Und es kommt noch schlimmer. An jedem Ausstellungstag wird von dem Regisseur Gwe-naël Morin und seiner Theatertruppe auch die erwähnte Wilhelm-Tell-Farce aufgeführt. Gespielt wird in einer Squat-Version eines Bühnenraumes im Anna-Viebrock-Stil, was den Vorteil hat, dass die Schauspieler die Birkenstocksandalen gleich anbehalten können. Die Dramaturgie schwebt irgendwo zwischen Amateurstrassentheater und frontalem Grand-Guignol. Wahrscheinlich würden auch die Fünftklässler einer gutgeführten Montessori-Schule so etwas Ähnliches produzieren.
Die im Publikum zahlreich vertretene Altersgruppe zwischen drei und sechs Jahren fand es köstlich. Die Eltern strahlten den Nachwuchs an. Ich sehnte mich zum ersten Mal in meinem Leben nach Christoph Schlingensief. Nach einer menschenverachtenden Geschmacklosigkeit, einer wirklichen Entgleisung, einer echten Provokation. Asylanten in einem "Big-Brother"-Container. Vorbestrafte Skinheads in einer Hamletproduktion. Christoph Blocher mit einem Hitlerschnauz. Irgendetwas, was den SVP-Zorn beschwören, ein Mediengedonner auslösen, einen Skandal provozieren würde. Aber es gab kein Entrinnen: Da war nur helvetisches Kindertheater. Macht nichts. Den Skandal haben wir ja nun doch. Ein Mirakel.




Nachtrag vom 21. Dezember: Kunst und Kritik ist ein internationales Problem

In Buones Aires liess eine Richterin auf Druck der Kirche die umstrittene Ausstellung des Plastikers Leon Ferrari schliessen. Die provozierenden Skulpturen wurden aufgrund "religiöser Diskriminierung und Anstiftung zum religiösen Hass" gesperrt. Erzbischof Bergoglio brandmarkte in einem Hirtenbrief die Skulpturen als Gotteslästerung. Ferraris "gekreuzigter Heiland in einem Toaster" und weitere antichristlichen Darstellungen hatten angeblich religiöse Gefühle geweckt. Wie bei der Kreditstreichung nach der Hirschhornprovokation löste auch der harte Gerichtsentscheid bei den Kuturschaffenden einen Sturm der Entrüstung aus. Von Beschneidung der Meinungsfreiheit war die Rede. Am Rande der Manifestation kam es zu heftigen Beschimpfungen und kleineren Handgemengen.

Wir meinen, dass Kunst sich nicht nur über Skandale definieren soll. Künstlerische Narrenfreiheit sollte gewährt bleiben. Doch darf ein Künstler nicht erwarten, dass er immer ein Anrecht auf Bezahlung seiner Kunst hat. In 'Tele Züri' machte Matthias Ackeret - während der Diskussion in Sonn-Talk über die Hirschhorngeschichte - eine erwähnenswerte Bemerkung. Wir zitieren:

"Es ist paradox, wenn ein Künstler wie Thomas Hirschhorn andauernd über unseren Staat schimpft und sich gleichzeitig von ihm fürstlich honorieren lässt. Es wäre nur konsequent, wenn er die 180'000 Franken an Pro Helvetia zurückzahlen würde - ansonsten erweckt er den Eindruck eines Abzockers der Kulturszene."




Nachtrag vom 28. Januar, 2005:

Wie prognostiziert, lohnte sich für Hirschhorn seine umstrittenen Provokationen. Aber nur deshalb, weil sich die Politiker haben provozieren lassen. Dank dem Skandal rund um Hirschorns Installation "über die Schweizer Demokratie" hatte der Künstler drei Mal mehr Zuschauer an seiner Ausstellung als üblich. Der Wirbel hat sich somit nicht nur für die Aussteller gelohnt. Sie verhalf auch dem Provokateur ohne grossen Aufwand zu internationaler Berühmtheit.


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