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www.rhetorik.ch aktuell: (15. Sep. 2002)

Kunst - Konsumenten - Kosten


Kunstschaffende haben oft das Dilemma, den künstlerischen Ansprüchen von Kunstkritikern als auch dem Publikum gefallen zu müssen.
Dass die Balance durch eingehen von Kompromissen nicht immer gewahrt werden kann, zeigt die Entlassung Christoph Marthalers als Intendant des Zürcher Schauspielhauses.
Obwohl eine internationale Jury das Haus zum zweiten mal zum "Theater des Jahres" gekürt hatte, fehlten die nötigen Zuschauer für ein finanzielles Überleben.
Ein gelungener Spagat zwischen Kunst und Kosten hätte vielleicht durch bessere Kommunikation zustande gebracht werden können.
Insofern ist die Geschichte eine Parabel für allgemeinere Kommunikationsprozesse.
Als Christoph Marthaler vor zwei Jahren Intendant am Zürcher Schauspielhaus berufen wurde, verkündete er:


"Jetzt werden endlich rote Zahlen geschrieben!"


Im letzten Sommer doppelte er auf diese Provezeihung noch nach:


"Wir sind erfolgreich in den Roten Zahlen!"


Beim Verwaltungsrat der Züricher Schauspielhaus kamen solche Sprüche nicht gut an. Eine Konfrontation zwischen dem Intendanten Marthaler und dem Verwaltungsrat war vorprogrammiert.
Das Schauspielhaus Zürich zählt zu den besten Schauspielhäusern der Welt. Zum zweiten Mal wurde es zum "Theater des Jahres" gewählt. Trotz dieser Ehrung konnte ein Grundproblem nicht gelöst werden: Die Akzeptanz beim Publikum blieb aus.
Christoph Marthaler wurde ungeachtet aller Anerkennungnen als Direktor entlassen. Es bleibt noch eine kleine Hoffnung, wenn bis Ende September 3.5 Millonen Franken aufgetrieben werden.
Der Verwaltungsrat macht Marthaler und seine Crew für den Zuschauerrückgang von 170'000 in der 2000/2001 Saison auf 120'000 Personen in der vergangenen Saison, sowie die schwindenden Abonnentenzahlen verantwortlich. Das Schauspielhaus erhielt von der öffentlichen Hand 33.7 Millionen Franken, etwa gleich viel wie eine Bühne in München.
Trotz grosser Proteste der Kulturschaffenden (siehe rechts) und der Tatsache, dass am 2. Juni, 53 Prozent der Zürcherinnen und Zücher einer Erhöhung der jährlichen Beiträge zugestimmt hatten, war der Verwaltungsrag nicht mehr bereit, die künstlerischen Höhenflüge ohne Akzeptanz des zahlenden Publikums weiter zu subventionieren.
Die "Welt" titelte "Spielen Sie für uns, Christoph Marthaler!", "Freitag" titelte "Provinziell". Die "Frankfurter Allgemeine" verurteilte die "wurstige kulturpolitische Bagage Zürichs", und die süddeutsche Zeitung spottete: "Heidi ist aus den schneebedeckten Bergen herabgestiegen und im Pfauen angekommen".
In der "Weltwoche" schreiben Peter Röthlisberger und Sandro Benini dazu:

"Ein Theatergesetz schien sich zu bestätigen: Wer zu avantgardistisch inszeniert und programmiert, bekommt internationale Auszeichnungen und den Beifall des Feuilletons, aber keine Zuschauer".
In der selben Wochenzeitung meint Julian Schütt:

"Und ein Theater, das kein Publikum anzieht, ist eben ein gescheitertes Theater, ob es nun traditionell, provokativ oder avantgardistisch daherkommt".

Ist das Schauspielhaus "Opfer des eigenen Erfolges" geworden? Kommunikationsprobleme hatten wahrscheinlich mehr Gewicht: Der Fall Marthaler hat eine psychologische Seite: Marthaler ist eigenwillig und polarisiert. Er bleibt in seinem Theater-Ego behaftet. Das zahlende Publikum kümmerte ihn weniger. Die Kommunikation mit dem Verwaltungsrat war katastrophal. Er machte diesem z.B. Vorwürfe, der denke vor allem wirtschaftlich, (als ob er dies nicht die Pflicht einer Verwaltung wäre) oder der Tatsache: (Zitat Weltwoche:) das die Verwaltungsräte der Schauspielhaus AG in der Saisonvorschau 2002/2003 ganz zuhinterst, gleich nach der Reinigungsequipe aufgeführt wurden.
Auf der finanziellen Seite sah es tatsächlich nicht so rosig aus: Sponsoren wie die "Bank Leu" lösten ihre Verträge. Auch dies war durch mangelnde Kommunikation bedingt: Die Sponsoren nahmen Anstoss daran, dass Marthaler die Kundenkontakte verweigerte.

Als weitere Gründe für die finanziellen Probleme wurden Gratiskarten und reduzierte Eintritte und hohe Gagen genannt: Der "Sonntagsblick" konnte ausfindig machen, dass Regisseure Christoph Schlingensief und Luc Bondy pro Regie 120'000 Fr kassieren konnten. Das seien Gagen, die in Deutschland und Österreich nie erreicht würden. Marthaler war grosszügig mit seiner Truppe und den Ensembleverträgen.
Über Marthalers eigenes Gehalt wird eisern geschwiegen. Anfangs September wurde gesagt, dass es weniger als die vermuteten 350'000 Fr sei.
Das Bild zeigt Marthaler bei einer Pressekonferenz in Zürich, bei der ihm vom kaufmännischen Direktor Andreas Spillmann der Mund zugehalten wird, als er seinen Salair sagen will. Das Bild spricht Bände über die Kommunikationsstörungen bei dieser Geschichte.


Marthalers Bemerkung - "Freiwillig werde ich nicht gehen" - veranschaulicht seine. Ich - Bezogenheit. Marthaler ist überzeugt, dass er nur deshalb gehen müsse, weil sein Theater störe. Marthalers Theater wurde immer mehr selbst zur Tragödie.
Dass das Publikum zu Hause blieb, ist für Marthaler kein Thema, vielleicht sogar ein Kompliment. Das Schauspielhaus ist für ihn ein geschützter Raum. Nach Marthaler muss Theater provozieren dürfen. Das ist in der Natur des Sache. Der Störfall ist Normalfall. Wir fragen uns: Darf Provokation zum Selbstzweck werden? Die Provokation war auch ein Thema an einem Expo theater. Es ist symptomatisch, dass der künstlerische "Expo" - Direktor Martin Heller an der Front der Demonstranten für Marthaler mitprotestierte. Heller formulierte sogar den soundbitefähigen Satz: "Die Verwaltungsräte sind wie verwöhnte Kinder, erst wollen sie ein Spielzeug, dann wollen sie es nicht mehr. Theater hat zwar mit Spielen zu tun, aber ist kein Spielzeug - für niemanden!" Die Kampfstimmung in Zürich wurde von verschiedensten Seiten angeheizt:

"Murxt ihn nicht, den Marthaler!".


oder
"Ledergerber-Spielverderber"


zeugen von rhetorischem Geschick. Die folgende Kreativkonstruktion zielt gegen Elmar Ledergerber:

"Lieber Elmar, in der Haider stoibert der Bush,- drum merke dir, du sollst nicht blochern!


Dieser Ausspruch macht auch bewusst, welche politische Macht das Feld "Kunst und Kultur" allein für sich beanspruchen möchte. Es ist verständlich, dass die Thematik mit den sogenannten soundbitefähigen Botschaften auch mediengerecht ausgeschlachtet werden konnten. Eine Bewegung formierte sich rasch.
Für den Soziologen Kurt Imhof ist dies nicht verwunderlich. Denn Kultur eignet sich vorzüglich für Protestbewegungen ähnlich wie Antikriegsbewegungen. Leute und Medien lassen sich für solche Themen rasch mobilisieren (Verbund Medien - Kulturschaffende). Letztlich wünschen alle Kultur, so wie auch niemand Krieg will. Die mobilisierten Marthaler Fans übergingen geschickt die Kostenfrage. Der Titel "Knappe Kasse - viele Fans" umschreibt das Kernproblem rund um die Marthalergeschichte. Aussenstehende haben den Eindruck, dass sich derzeit Geld und Geist mit Bemerkungen, Argumenten und spitzen Bemerkungen gegenseitig bekämpfen. Besser wäre aber:

"Kommunikation statt Konfrontation"


Der Balanceakt: Kunst und Konsumenten Das "Schauspielhaus - Theater" rund um Marthaler ist ein Musterbeispiel, das veranschaulicht, dass die Konsumenten und Randbediungenen wie hier die Finanzierung in das Konzept mit einbezogen werden sollten.
Als weiteres Beispiel müsste hier die Expo 2002 erwähnt werden, bei der erhebliche Nachtragskredidte nötig waren.
Ähnlich wie die kreative Mutter Piplilotti der Expo 2002, signalisierte auch Marthaler, der kreative Kopf des Schauspielhauses:
Das Publikum muss uns so nehmen, wie wir sind. Wir machen keine Konzessionen.

Die Angst, von Sponsoren, von der Wirtschaft, vom Publikum abhängig zu werden, schien in beiden Fällen zu dominieren.
Nicht nur bei Kommunikationsprozessen ist das Balanceprinzip etwas vom Wichtigsten. Diese Schauspielhausgeschichte symbolisiert die Balance zwischen Wunsch des Produzenten (hier den künstlerischen Bedürfnissen des Intendanten) und den Ansprüchen des Konsumenten (hier den Konsumenten als Theaterkunden).


Auch bei der Expo 2002 ging es um die Balance zwischen Ambitionen zahlreicher kreativer Macher einerseits und den Bedürfnissen der Wirtschaft und den Publikumswünschen anderseits.
"Entweder-Oder" Denken führt in vielen Fällen zum Misserfolg. Erfolgsdenken gelingt besser mit einer "Sowohl - Als auch"- Philosophie.

"Gegensätze unter einen Hut bringen zu können", ist nicht nur bei Erziehungs-, Wirtschafts- und Kulturbereichen wichtig. Auch bei den meisten Kommunikationsprozessen werden Ziele nur durch Verständigung und Kompromissbereitschaft erreicht. (Siehe dazu unseren Beitrag zum Verhandeln.)

Das Beispiele "Kunsthauskrise" verdeutlicht, dass hier die Adressaten ausgeklammert wurden. Künstler, die nur egozentrisch denken und das "Du" ausklammern, werden früher oder später erleben

Publikum und Künstler sind aufeinander angewiesen.

Ökonomische Fakten und die Adressaten dürfen nicht leichtfertig ausgeklammert bleiben. Kunst,Konsumenten und Kosten sind und bleiben eine Einheit.
Der egozentrische Anspruch, nie Kompromisse eingehen zu müssen, bleibt bei öffentlichen Kunstaufträgen oft ein frommer Wunsch. Der Künstler könnte zwar sagen: "Ich habe das Anrecht, das zu tun und zu lassen was ich will." Er muss dann aber nicht damit rechnen, dass seine Arbeit auch bezahlt wird. Aus der Sicht der Kommunikationsberater ist solch einseitiges Denken riskant, wenn nicht fragwürdig. Dialogisches Denken schliesst nie eine Seite aus. Künstler und Publikum haben beide Anspruch darauf, ernst genommen zu werden. Ohne die Bereitschaft zu Kompromissen, ohne die Einsicht, dass gemeinsam Lösungen angestrebt werden müssen, kommt man nicht weit.

Stimmen:
  1. Gerhard Mack erwähnt im NZZ Beitrag "Köpfe-Kosten und die Kunst" vom 8. September in der NZZ auch Stimmen, die den hohen 25% Anteil an Eigenfinanzierung vom Zürcher Schauspielhaus kritisieren:
    • Das Basler Theater ist stolz auf seine 22 Prozent Beteiligung.
    • Das Staatstheater Stuttgart konnte den Kostendeckungsgrad von unter 10 auf 17 Prozent steigern. Dabei sind Sponsorengelder eingeschlossen.
    • Das Hannover Theater erreicht ein Einspielsoll von 15 Prozent, das sich "mit sehr viel Glück, Routine und Geschick" in den nächsten Jahren vielleicht auf 20 Prozent steigern lässt.
    • Das Hamburger Thaliatheater ist mit 25 Prozent einsame Spitze in Deutschland. Erreicht wurden sie in der letzten Spielzeit mit der hohen Zahl von 45 Gastspielen in aller Welt.
    Mit erhöhterem Kostendeckungsgrad sei avantgardistisches Theater kaum mehr möglich.
  2. Martin Walder schreibt im NZZ Beitrag "Murxt ihn nicht, den Marthaler" vom 8. September 2002 vom verunglückten Timing der Kündigung Marthalers. Ein Stadttheater sei ein träger Dampfer, und den qualifizierten neuen Kapitän möchte man sehen, der jetzt auf die Schnelle und stolzen Hauptes an der ganzen international empörten Theatergemeinde vorbei die Zürcher Kommandobrücke betreten wollte und mit alt Stadtpräsident Estermanns sprichwörtlich gewordenem Gebot "das Steuer herumreisst" in Richtung Publikum. Weiter "Etwas Gutes hat der Scherbenhaufen an sich: Über das Schauspielhaus wird nicht mehr bloss per Stimmzettel debattiert. Was für ein Theater will Zürich, diese verschleckte kleine Grossstadt? Was und wie viel ist es ihr wirklich wert? Ist in der Abstimmung vom 2. Juni das legendäre Schauspielhaus inklusive des Magnets Schiffbau oder das Marthaler-Theater gerettet worden? Das politisch bürgerliche Zürich meinte erst einmal klar das eine, ein auch neues, verjüngtes Publikum das andere. Und viele meinten beides."


Fazit:
Beim "Marthaler Theater" gilt es die Zusammenhänge differenzierter zu betrachten. Management, Geldfragen, Kultur, Künstler, aber auch das Publikum als die Adressaten müssen bei allen Projekten mit einbezogen werden. Um Kunst, Konsumenten und Kosten unter einen Hut zu bringen, sind aber vor allem Kommunikationsprobleme zu lösen.


Nachtrag vom 15. September 2002.
Ein Komitee "Damit Marthaler bleibt" hat begonnen, Ideen zu sammeln, um die 3.5 Millionen Franken Sponsorengelder zu beschaffen, die nötig wären, damit Marthaler weitermachen könnte. Das Initiativkommitte will aber vor allem Gespräche zwischen den Beteiligten (Stadtverwaltung, Theaterleitung und Verwaltungsrat) ermöglichen.

Nachtrag vom 15. Oktober, 2002
Der Verwaltungsrat des Schauspielhauses hat die Kündigung Marthalers überraschend zurückgenommen. Dank Einsparungen von 1.8 Mio Franken und zusätzlichen 2,5 Millionen "Ausfallgarantie" des Kanton Zürichs scheint die Finanzierung bis 2004 gesichert. Die Veranstaltungen sollen aber reduziert werden. Marthaler dankte dem Kanton für die zusätzliche Hilfe. Ob der Zuschauerschwund gestoppt werden kann? Wenn Marthaler keine Konzessionen machen will, sind berechtigte Zweifel angebracht. Stadtpräsident Elmar Ledergerber, der die Stadt im Verwaltungsrat vertritt, sagte im Verwaltungsrat sei nur "kleine Hoffnung" zurückgekerht. Marthaler müsse eine deutliche Verbesserung der Zuschauerzahlen, mindestens 140'000 erreichen. Die Entwicklung der Zuschauerzahlen wird dann auch entscheidend sein, ob Marthaler eine fünfte Saison bleiben kann und damit seinen Fünfjahresvertrag beenden würde. Trotz grösserer Kooperationsbereitschaft blieb Marthaler vor den Medien ganz der alte: Er mache "Theater mit Leidenschaft" und sei nicht zu Konzessionen für den kommerziellen Erfolg bereit.

Nachtrag vom 13. Juni 2003, Das Marthaler-Drama geht weiter.
Marthaler hatte es fertig gebracht, die Verwaltungsräte des Schauspielhauses zum Tanzen zu bringen. Statt ihn auf die Strasse zu stellen, mussten sie die Bühne räumen. Nun spielt er hinter den Kulissen erneut Katz und Maus. Das macht ihm gewiss keiner so rasch nach. Mitte der Saison hätte über den weiteren Verbleib des Direktors entschieden werden sollen. Damals hiess es, der Entscheid falle im Mai. Später war dann von Anfang Juni die Rede. Nun will man Mitte Juni entscheiden. Marthaler wollte den Vertrag nicht wie erhofft einseitig kündigen. Doch Marthaler soll überall verkündet haben, er wolle so nicht mehr arbeiten. Nach Weltwoche soll Marthaler gestöhnt haben: "Ich mag nicht mehr. Ich bin nicht der richtige Intendant. Die Belastung ist zu gross". Die Stadt Zürich will aber keinen ausserordentlichen Zuschuss über 2.5 Millionen Franken mehr geben. Der Stadtpräsident möchte Streitigkeiten mit dem Direktor vermeiden. So ist Schweigen ist angesagt. Niemand will die heisse Kartoffel anfassen. Zu viele hatten sich bei der letzten Auseinandersetzung die Finger verbrannt. Somit hat Marthaler weiterhin freie Hand, hinter der Bühne seine Fäden zu ziehen.


Matthias Hartmann und Stadtpraesi Elmar Ledergerber: Quelle: www.swissinfo.org, Keystone picture Nachtrag vom 13. September 2003: Nachfolge von Marthaler geregelt:
Matthias Hartman, Intendant am Schauspielhaus Bochum wird im Sommer 2005 die Nachfolge von Christoph Marthaler als Intendant des Zürcher Schauspielhauses antreten. Für die 2004/2005 Saison ist eine Interimlösung mit Andreas Spillmann vorgesehen. Hartman:

"Ich mache nicht Theater für die Quote. Wenn das Haus jedoch nicht voll wird, fühle ich mich am falschen Platz".


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