Spiegel Mr. Lemann, Sie begrüssen die neuen Studenten Ihrer
Fakultät jedes Jahr mit einer aufmunternden Rede zur Zukunft ihres
Berufs. Was werden Sie ihnen 2010 sagen? Dass sie sich einen anderen
Job suchen sollen?
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Lemann: Ich versichere ihnen, dass der Journalismus nicht
verschwinden wird, sich aber gerade auf ziemlich fundamentale Weise neu
erfindet. Aus der Sicht eines Studenten, der ein Vollzeitreporter werden
will und einen Einstiegsjob sucht, stehen die Dinge im Augenblick gar
nicht mal so schlecht.
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Spiegel Die Auflagenverluste der US-Zeitungen und die drastischen
Stellenkürzungen selbst bei einer Institution wie der "New York
Times" sprechen aber eine andere Sprache.
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Lemann: Nach ein paar Monaten der Eiszeit haben wir wieder begonnen,
Leute auf dem Arbeitsmarkt unterzubringen. Im Internet gibt es viele
journalistische Startups, und viele unserer jüngsten Absolventen
machen spannende Dinge auf der ganzen Welt. Zum Glück gibt es immer
noch viele News-Organisationen. Aber es ist höchst unwahrscheinlich,
dass man die Schule verlässt und einen Job bekommt, in dem man
bleibt, bis man sich zur Ruhe setzt.
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Spiegel Ist die Ära der einflussreichen Zeitungen
endgültig vorbei?
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Lemann: Tageszeitungen in den USA werden wahrscheinlich nicht völlig
verschwinden. Aber sie sind fast alle geschrumpft. Das heisst aber
nicht, dass sie nicht weiter die vorherrschenden Nachrichtenanbieter
an ihren Standorten sein werden. Die Zeitungen haben das Schlimmste
überstanden.
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Spiegel Fragt sich, was für eine Art Journalismus
dabei übrig bleibt. Ihre Schule hat gerade einen weitreichenden
Bericht dazu veröffentlicht: "Der Wiederaufbau des amerikanischen
Journalismus". Darin fürchten die Autoren um den "accountability
journalism" - Journalismus als Dienst an der Öffentlichkeit, der
Machthaber zur Verantwortung zieht. Sind Journalisten überhaupt
noch die Vierte Gewalt?
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Lemann: "Accountability journalism" ist eine teure Sache. Am schlimmsten
ist in dieser Hinsicht nicht so sehr der Abstieg der Zeitungen, sondern
das bisherige Versagen fast aller Beteiligten, einen Weg zu finden,
"accountability journalism" online zu etablieren. Das Netz ist eine
wunderbare Plattform, aber es finanziert sich nicht von selbst.
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Spiegel In Ihrem Bericht gibt es einen gewagten Vorschlag:
die Gründung eines nationalen "Fund for Local News", eines Fonds
für Lokalnachrichten aus Geldern, die die Kommunikationsbehörde
FCC bereits kassiert, zum Beispiel von Telekom- und Telefonkunden. Das
löste bei vielen Journalisten sofort Sorgen um eine Kontrolle durch
die Regierung aus.
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Lemann: Wir Journalisten habe einen sehr starken Instinkt,
uns vom öffentlichen Sektor fernzuhalten, mit Ausnahme von
Schutzgesetzen. Auf die bestehen wir. Wenn man die Leute aber fragt,
ob sie NPR (ein öffentlich finanzierter Radiosender in den USA,
Anm. d. Red.) oder das öffentliche Fernsehen oder in Grossbritannien
die BBC abschaffen wollen, ist die Antwort: Tja, vielleicht doch nicht.
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Spiegel Wir haben in den USA also schon Formen des
regierungsgesponserten Journalismus?
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Lemann: Es ist doch bemerkenswert, dass es zum Beispiel an
Universitäten hier viele Projekte gibt, die sich mit der Suche nach
der Wahrheit befassen. Sie werden von der Regierung gesponsert und sind
ziemlich erfolgreich. Natürlich birgt jede finanzielle Hilfsquelle
das Potential der Korruption. Deshalb muss man Schutzvorrichtungen
installieren. Seit Jahren funktioniert das ja auch mit Inserenten. Wir
haben uns daran gewöhnt.
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Spiegel Wie würde das denn mit Regierungsgeldern für
Medien funktionieren?
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Lemann: Der Bericht schlägt keine Regierungssubventionen
vor und auch keine Regierungskontrolle. Er empfiehlt ein
automatisches Gebührensystem, das die FCC-Gebühren an
Gremien in den Bundesstaaten weiterleitet, die dann substanzielle
Finanzverpflichtungen zur Nachrichtenermittlung übernehmen. Da sind
viele Schutzvorkehrungen mit eingebaut. Es gibt einen klaren Unterschied
zwischen staatlichen Medien und öffentlichen Medien, wie man in
vielen anderen Ländern sieht, auch in Deutschland. Amerikanische
Journalisten ziehen gerne den voreiligen Schluss, dass das dasselbe
sei und dass jedes Mal, wenn man Staatshilfen erhält, die "Prawda"
herauskommt.
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Spiegel Der Bericht schlägt ausserdem die Umwandlung
von Zeitungen in steuerlich gemeinnützige Organe vor, ausserdem
verstärkte finanzielle Unterstützung durch philanthropische
Einrichtungen und mehr Zusammenarbeit mit öffentlichem Rundfunk
und Universitäten. Das klingt schön, aber ist es plausibel?
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Lemann: Einiges wird bereits umgesetzt. Alle diese Vorschläge,
inklusive des Nachrichtenfonds, sind in jedem Fall durchführbar.
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Spiegel Der Report malt sich auch einen interaktiveren Ansatz
zwischen traditionellen Print-Reportern, Web-Autoren und Bloggern und
selbst Lesern aus. Dagegen sträuben sich aber viele Journalisten.
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Lemann: Diese Zusammenarbeit findet doch schon statt. Wir haben zueinander
gefunden. Die Web-Leute behaupten nicht länger, dass es, selbst
wenn alle Journalisten morgen verschwinden würden, noch genau so
viele Nachrichten gäbe wie bisher.
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Spiegel Sensationelle Lügen-Storys wie kürzlich die
Aufregung über den erschwindelten Flug eines Sechsjährigen in
einem Ballon stärken das Image etablierter Journalisten aber kaum.
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Lemann: Diese Sache hat mich frustriert. Wenn man ein rein
marktorientiertes System hat, dann werden Geschichten wie dieser
"Ballon-Boy" unweigerlich an die Spitze kommen.
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Spiegel Der "Ballon-Boy" ist also die Zukunft?
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Lemann: Journalisten sollten immer versuchen, ihre Arbeit für ein
breites Publikum fesselnd zu gestalten. Aber wenn der Markttest dabei die
einzige Massgabe ist, schlägt das Pendel in eine bestimmte Richtung
aus. Das andere Extrem wären langweilige Nachrichten. Journalismus
muss in der dynamischen Spannung dazwischen existieren.
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