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www.rhetorik.ch aktuell: (08. Okt, 2009)

Stocker läuft davon

Rhetorik.ch Artikel zum Thema:
Tagesanzeiger vom 8. Oktober 2009: "Stocker hat die Nerven verloren", Interview von Claudia Imfeld:

Regierungsratskandidat Ernst Stocker läuft aus einer Radiosendung und lässt seinen Gegner Daniel Jositsch und den Moderator stehen. Das hätte er besser nicht getan, sagt Kommunikationsexperte Marcus Knill.


Herr Stocker sagt, er habe Rückgrat bewiesen, als er aus der Sendung lief. Der Moderator habe sich nicht an die Abmachungen gehalten. Wie schätzen Sie sein Verhalten ein?

Davonlaufen ist grundsätzlich falsch. Denn die Zuhörer kennen den Hintergrund der Geschichte nicht. Sie wissen nicht, dass es anscheinend eine Abmachung gab, die nicht eingehalten wurde. Sie bekommen nur mit, dass da einer aufbraust und entnervt geht.

Wie verhält man sich richtig in solch einer Situation?

Ruhe bewahren ist die oberste Maxime. Stocker hätte Jositsch darauf hinweisen können, dass er dieses Thema zum x-ten Mal anschneidet und dann den Sachverhalt aus seiner Sicht erklären sollen. Vielleicht hätte er sogar humoristisch kontern können. Dann hätte er souverän gewirkt und gepunktet. Warum hat er nicht sachlich transparent gemacht, dass die Spielregeln nicht eingehalten wurden? Etwa mit: "Obwohl Sie sich nicht an die vereinbarten Spielregeln halten, schlage ich vor, dass wir zum eigentlichen Thema zurückkommen."

Stocker warf Jositsch vor, einen unfairen Wahlkampf zu führen.

Der Jurist Jositsch ist sehr gewieft vorgegangen: Er hat eine Schwachstelle gefunden und stocherte wahrscheinlich bewusst drin herum. Ich verstehe Stockers Ärger, denn anscheinend hat er das Bauverbot für Minarette damals im Kantonsrat ja nur seiner Partei wegen unterstützt und war persönlich nie dafür. Jetzt stellt ihn Jositsch als Lavierer dar, als einen der sich durchschlängelt. Da ist Stocker wohl der Kragen geplatzt. Leider hat er die Nerven verloren.
Politiker laufen immer wieder mal aus Sendungen. Wann bringt diese Vorgehensweise etwas?

Peter Bodenmann lief einmal bei einer "Arena"-Sendung davon, begleitet von der Kamera. Er schaffte es so, seine Botschaft dreimal ungestört zu platzieren: beim Weggehen, bei einem Interview über das Weggehen und dann bei der nächsten "Arena".

Und was war Ihrer Ansicht nach Stockers Botschaft?

Ernst Stocker brachte nur eine Botschaft rüber: "Ich habe die Nerven verloren". Das schadet sicher seiner Reputation.


Karikatur von Widmer:

Das Protokoll des Eclats:



Nachtrag vom 10. Oktober: "20 Min":

Im heutigen "Tages-Anzeiger" sagte Stocker auf die Frage, ob er ein Medientraining absolviert habe: "Wir vom Land sind locker, ich brauche das nicht." Gestern war von dieser Lockerheit dann plötzlich nichts mehr zu merken. Darauf angesprochen sagt Stocker, er müsse sich noch einmal überlegen, ob er nicht doch ein Medientraining absolvieren sollte.


Schade. In einem professionellen Trainings hätte Herr Stocker gelernt, immer gut zuzuhören, zu erkennen, dass man bei Überraschungen zuerst innehalten, Ruhe bewahren und die Situation analysieren muss, bevor man sich von den Emotionen leiten lässt und die Nerven durchbrennen. Bei Medien gilt, "Gesagt ist gesagt!"

Alt Bundesrat Blocher bewertete im "Tele Blocher" Stockers Hinauslaufen als Stärke und Mut. Er bewundere seinen Parteikollegen. Ich bin da anderer Meinung. Stocker hat das Hinauslaufen nicht mit Verstand, als gezielte Aktion, bewusst und ruhig zelebriert. Er stand bei seiner Flucht nicht über der Sache. Stocker verlor eindeutig die Nerven.


Nachtrag vom 10. Oktober 2009: Roger Zedi macht im Tagesanzeiger vom 10 Oktober 2009 eine Liste von Politikern, die Interviews verlassen haben. Wir haben ein paar dieser Fälle als Aktuell Artikel. Hier eine Zusammenfassung der in diesem Artikel "Es ist zum Davonlaufen" genannten Fälle. Der Fall Novak vom 2005 ist hier noch angehängt worden:

SVP-Kandidat Ernst Stocker verlässt ein Interview von Radio DRS, weil er nicht über die Minarett-Initiative reden möchte, die sein SP-Gegenkandidat Daniel Jositsch als Thema aufbringt.
In den USA verlassen vorwiegend Prominente im Zorn Radio- und TV-Studios, weniger Politiker. Taylor Swift bricht 2009 ein Radio-Interview ab, weil sie nicht über einen Vorfall mit Kayne West an den MTV Video Music Awards reden will.
Der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdogan verliess ein Podium am WEF 2009 mit den Worten: "Ich werde nie mehr nach Davos kommen" weil er vom Moderator wiederholt unterbrochen wurde. Aktuell Artikel.
2008 verliess der ZDF - Wissenschaftsjournalist Joachim Bublath die Talkshow bei Maischberger, weil ihm das Geschwätz der anderen Teilnehmer (vor allem das von Nina Hagen) zu doof wurde. "Das hier ist etwas wie eine Gruppentherapie ..." monierte der Physiker Bublath.
Bei Larry King lief in 50 Jahren nur ein einziger Gast hinaus: Jan Adams im Jahre 2007, nachdem er sich geweigert hatte, über seine kosmetischen Eingriffe bei der Mutter von Kanye West kurz vor dem Tod zu reden.
Silvia Berlusconi wollte 2006 in seinem Interview nicht über seine Freundschaft mit George W. Bush reden. Er verliess das Studio mit der Bemerkung an die Moderatorin: "Das wird ein Fleck bleiben in Ihrer Karriere!" Aktuell Artikel
Als 1999 Ueli Mauer bei Tele24 von Schawinski in "Sonn Talk" als "Parteipräsident von Blochers Gnaden" vorgestellt wurde, verliess er das Studio. Aktuell Artikel (Mitte des Artikels)
Peter Bodenmann verliess 1995 die ARENA, weil ihm der kompetente Gegner fehlte.
Chris von Rohr rastete 1990 im "Focus" auf DRS3 aus, wirft Ueli Schmezer ein Buch nach, bevor er hinausläuft.
In einer CNN Talkrunde verliess Kolumnist Robert Novak eine Diskussionsrunde. Novak diskutiert mit James Carville und Gastgeber Ed Henry in der Sendung "Inside Politics". Aktuell Artikel


Nicht allen hat der frühzeitige Abmarsch langfristig geschadet. Im Artikel Zur Psychologie es Hinauslaufens argumentiert Guido Kalberer, dass der frühzeitige Abgang im Showbusiness besser goutiert wird als in der Politik:

Wer eine Gesprächsrunde aufgrund einer Aussage eines Teilnehmers verlässt, zeigt Schwäche: Er verliert nicht nur seine Nerven, sondern auch das Gesicht und zieht wie ein geschlagener Hund von dannen - als Verlierer eines Streitgesprächs, das in zivilisierten Gesellschaften die direkte körperliche Auseinandersetzung und Konfrontation ersetzt. Das Publikum, um das es geht, hat wenig Lust, sich mit einem Looser zu identifizieren. Verlässt jemand die Talkshow mit Kalkül, kann das Rauslaufen ein Schaulaufen werden: Der Triumphator verlässt die Arena, die ihm zu schmutzig geworden ist. Er hält hehre Werte wie Anstand und Respekt hoch und gibt seiner Überzeugung Ausdruck durch eine überlegene und überlegte Geste. Die Souveränität des Handelns bezaubert das Publikum, das sich hinter der Maske der Medien versteckt und nur darauf wartet, dass sich endlich einmal etwas tut in der medialen Höhle des Löwen.



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