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www.rhetorik.ch aktuell: (23. November, 2004)

Sozialvorsteherin Monika Stocker und die Medien





Ein Sozialhilfefall hat im Zürcher Gemeinderat und Medien zu einem Wirbel gesorgt. Es geht um eine Notlösung in einem Hotel für eine sechsköpfige Familie. Wir beobachten das Medienverhalten der grünen Zürcher Stadträtin Monika Stocker.

Wir hatten das Medienverhalten von Stocker in einem Aktuellbeitrag vom 12. November, 2001 schon behandelt.


Zur Situation: Eine sechsköpfige Schweizer Familie ist laut einem Bericht von "Tele Züri" (9. November 2004) seit September im "Hotel Zic Zac" in der Zürcher Altstadt einquartiert. Für Erschütterung sorgten in der Öffentlichkeit nicht etwa die offenbar schwierigen Lebensumstände dieser Familie, sondern der 8'000 Franken von der Sozialhilfe finanzierte Hotelaufenthalt. Auf den ersten Blick erweckt dieser den Eindruck eines verschwenderischen Umgangs mit Steuergeldern. Die FDP reichte eine Interpellation ein, die SVP doppelte mit einer zweiten nach und geisselte in einer Fraktionserklärung die "Geldverschleuderung im Sozialdepartement". Stadträtin Monika Stocker bestätigte den Fall. Das zu einem Tagespreis von 230 Franken gemietete Hotelzimmer "sei eine Zwischenlösung in einer Extremsituation". Wenn eine sechsköpfige Familie in einem einzigen Zimmer untergebracht sei, könne man aber kaum von einer Luxuslösung sprechen. Es handle sich um ein in ganz prekären Umständen lebendes Paar mit damals drei kleinen Kindern, wobei die Mutter zum Zeitpunkt des Einzugs ins Hotel hochschwanger gewesen sei. Man habe die Familie, die man nicht auseinander reissen wollte, dringend unterbringen müssen - in erster Linie zum Wohl von Mutter und Kind. Den von der SVP vorgebrachten Einwand, in Zürich seien zurzeit mehrere städtische Vierzimmerwohnungen zu einem Viertel der Hotelkosten zu haben, kontert Stocker mit Verweis darauf, dass man alle Möglichkeiten dieser Art schon vergeblich geprüft habe. So sei die Familie beispielsweise aus einer Notwohnung ausgewiesen worden und gehöre zu den ganz seltenen Fällen, in denen man von einer Unfähigkeit zum selbständigen Wohnen sprechen müsse: Sie sei nicht in der Lage, einen geregelten Haushalt zu führen. Die Alternative zum Hotelaufenthalt hätte laut Stocker gelautet, Mutter und Baby in einer Klinik unterzubringen, die anderen Kinder in einem Heim und den Vater in der Notschlafstelle. Diese Variante wäre den Steuerzahler mindestens dreimal teurer zu stehen gekommen als die Hotelkosten, hält die Sozialvorsteherin fest. Ende September ist das Baby der Familie zur Welt gekommen. Derzeit ist man laut Stocker daran, eine längerfristige Lösung zu suchen. Diese Argumentation wurde in der Öffentlickeit nicht akzeptiert. Am 13. November 2004 erschien in der NZZ unter dem Titel Stockers Sorge über "Vergiftung des Klimas" ein von Urs Bühler geführtes Interview mit Stocker:

Bühler: Ihre Nerven scheinen blank zu liegen: Sie haben kürzlich eine Sitzung der gemeinderätlichen Sozialkommission wutentbrannt verlassen, da Ihnen die Kritik der SVP an Ihren Sozialausgaben zu bunt wurde. Wie geht es dort weiter? Stocker: Ich habe mich immer bemüht, die Kommission absolut offen zu informieren. Das wurde von der SVP dauernd missbraucht, um die von mir gelieferten Informationen für eigene Zwecke auszuschlachten. Zudem kann ich nicht akzeptieren, wie manche Kommissionsmitglieder mit Referenten aus meinem Departement umgegangen sind, indem sie diese auslachten und blosszustellen versuchten. Ich darf nicht zulassen, was da abgeht: eine Abqualifizierung des Sozialen in einer Art, die ich politisch gefährlich finde. Wenn ich mich nun für einige Wochen zurückziehe aus diesem Gefüge, müssen die Kommissionsmitglieder ein Weilchen selber schauen. Das kann nur gut tun.
Bühler: Sie bleiben den Kommissionssitzungen bis Ende Jahr fern. Passt Ihr schmollendes Verhalten zum Image einer unerschrockenen Kämpferin? Stocker: Ich schmolle nicht. Es ist meine politische Sorge. Wenn bei der kürzlich publik gewordenen, vorübergehenden Einquartierung einer sechsköpfigen Familie in einem Hotel gleich der Missbrauch von Steuergeldern gewittert wird, statt dass man sich für das Schicksal dieser von der Sozialhilfe abhängigen Menschen interessiert, ist das ein Resultat dieser Destruktion, diese Vergiftung des Klimas. Ich bin wild entschlossen, Ansätzen zur Destruktion künftig offensiver zu begegnen - in der Kommission wie auch im Parlament.
Bühler: In wenigen Wochen folgt die Budgetdebatte des Gemeinderats. Was erwartet Sie dort? Stocker: Es wird ein hartes Ringen. Ich hoffe, es gelingt mir zu zeigen, wo wir zu steuern versuchen und wo wir nicht selber steuern können. Ich denke da an die ganzen Abwälzungen von Kosten durch Kanton und Bund, aber auch an die Arbeitsmarktlage. Das kann die Stadt allein nicht lösen.


Stockers Antwort: Am 17. November 2004 erfolgte eine Erklärung der Sozialvorsteherin: Sie zeigte Verständnis für die Bedenken der Öffentlichkeit und versprach, die Fakten später offenzulegen. Stocker stellte umfassende Informationen über den Fall in Aussicht, der seit einer Woche zu reden gibt. Sie verstehe Ärger und Wut in der Öffentlichkeit. Aber die Reaktion mache ihr auch Angst: "Angst für das zukünftige Klima für Menschen am Rande in unserer Stadt", sagte Stocker. Wegen des (eidgenössisch geregelten) Daten- und Persönlichkeitsschutzes habe sie den wiederholten Forderungen der Öffentlichkeit um uneingeschränkte Auskünfte über den Fall bisher nicht nachgegeben.

Stocker räumte ein, dass es ihr nicht gelungen sei, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass in diesem Einzelfall die einzige Alternative zur Hotelunterbringung "das Vierfache gekostet hätte". Sie werde sich deshalb bemühen, "nächste Woche alle wichtigen Fakten und Zusammenhänge zum umstrittenen Dossier vollumfänglich auf den Tisch zu legen".

Dies im Zusammenhang mit zwei kurzfristig eingereichten Interpellationen von SVP und FDP. Das Parlament will demnächst entscheiden, ob diese Vorstösse dringlich erklärt werden, damit zum umstrittenen Fall möglichst schnell eine Debatte im Rat geführt werden kann. Nachdem die Sozialvorsteherin erkennten musste, dass die Rchtfertigungsversuche und die Worte des Überzeugens nichts gebracht hatten, entschloss sie sich für eine Informationssperre. Wir vertreten die Meinung, dass im bestehenden fortgeschrittenen Stadium der Skandalierung eine Informationsblockade ebenso falsch ist, wie das folgenschwere Schweigen und Abtauchen von Anita Fetz. Die Bevölkerung kann und will die Bezahlung der Hotelrechnung nicht verstehen, zumal sich gezeigt hat, das die Polizei beim Vater mehrmals vorsprechen musste, weil er mit dem Gesetz in Konflikt kam und die Kinder im Spital behandelt werden mussten. Für Stocker kommt der Fall in einem ungünstigen Moment, denn die Diskussion um die Sozialausgaben ist im Hinblick aufs kommende Budget recht aufgeheizt. Die Geschichte ist kein Einzelfall. Nach Stocker gibt es "etwa 10 Fälle pro Jahr" (NZZ 12/11/2004). Diese Zahl scheint die untere Grenze zu sein. Wie Departementssekretär Urs Leibundgut auf Anfrage bestätigt, gibt es in der Stadt Zürich pro Jahr 10 bis 20 Fälle, in denen Familien in Hotels untergebracht werden; noch dazu kommt die Unterbringung von Einzelpersonen - die Gesamtzahl dürfte also höher liegen. Leibundgut will keine genauen Angaben machen und verweist auf die Medieninformation vom kommenden Donnerstag. Bis zu diesem Zeitpunkt erteilt auch Monika Stocker den Medien keine Auskunft mehr.

Die Stadträtin schweigt und mit dem Verzicht auf Informationen hilft der "Hotel- Familien" Fall, den von SVP-Politikern immer wieder vorgebrachten Vorwurf zu bestätigen, dass in Zürich Sozialhilfe zu grosszügig geleistet wird.



Andere Fälle und Vergleich mit anderen Städten: Andere Schweizer Städte sind mit der Unterbringung von Sozialhilfebezügern in Hotelzimmern zurückhaltender.
  • In der Stadt Basel kann man sich an keinen Fall erinnern, der mit jenem der Zürcher Familie vergleichbar wäre. "Obdachlosen den Aufenthalt in einem Hotel zu bezahlen, ist untragbar", sagt Rolf Maegli, Vorsteher der baselstädtischen Sozialhilfe. Es sei denkbar, in einer Ausnahmesituation eine Person für zwei bis drei Nächte in einem Hotel unterzubringen. Für einen längeren Zeitraum komme eine solche Lösung aber nicht in Frage.
  • Ähnlich klingt es bei den zuständigen Stellen der Städte Bern, Winterthur, St. allen und Luzern. "Es gibt schwierige Situationen, in denen wir eine Person für ein bis zwei Nächte in einem einfachen Hotel unterbringen. Für längere Frist kommt das aber nicht in Frage", sagt Norbert Raschle, Leiter des St. Galler Sozialamts. Auch Ernst Schedler, Leiter des Winterthurer Sozialamts, wundert sich über die lange Dauer der Unterbringung in einem Hotel. "Nach zwei Monaten herrscht keine Notsituation mehr. Eine Notsituation dauert in der Regel ein paar Tage", sagt er. Der Luzerner Stadtrat Ruedi Meier erklärt, es komme in Luzern einmal alle zwei bis drei Jahr vor, dass jemand in einer Notlage in einem Hotel untergebracht werde.


Wie geht es weiter? Monika Stocker muss überzeugendere Antworten auf die drängenden Fragen finden, wenn sie den Verdacht entkräften will, dass die Zürcher Sozialhilfe Steuergelder verschleudert.

Sie könnte aber auch erklären, dass ein Fehler passiert sei ( Mea culpa) und versprechen, dass in Zürich künftig Hotelunterbringungen für Sozialhilfebezüger zurückhaltender angewandt werden.




Nachtrag vom 25. November, 2004: Überzeugende Information vom Donnerstag 25. November 2004.
Die fürsorgeabhängige Familie, die vorübergehend in einem Zürcher Hotel untergebracht war, ist in die Agglomeration gezogen. Sozialvorsteherin Monika Stocker antwortete am Mittwoch auf Interpellationen der Gemeinderatsfraktionen von FDP und SVP zum umstrittenen Fürsorgefall.

Die Familie - Vater, Mutter, drei Kleinkinder und später ein Neugeborenes - wohnte vom 13. September bis zum 15. November in einem Hotel der Stadt Zürich. Insgesamt habe dies die Stadt 11'840 Franken gekostet - durchschnittlich 6'000 pro Monat. Dazu kommen Lebensunterhaltskosten von rund 2500 Franken. Zusätzliche, nicht bewilligte Hotelauslagen werden der Familie von der Unterstützung abgezogen. Von einem Kindermädchen oder dergleichen könne keine Rede sein. Da die Bündner Familie nicht in Zürich angemeldet war, muss nun der Heimatkanton Graubünden der Stadt die Unterstützungskosten zurückzahlen, so Stocker. Der Stadt Zürich erwachsen also keine Kosten. Die Familie war in den letzten Jahren immer wieder nach Zürich gekommen und wieder weggereist. Der Mann wird seit 1997, die Familie seit 2000 unterstützt. Unterbrüche gab es, wenn sie weggezogen war oder versuchte, sich selbst über Wasser zu halten.

Mit der offene Information der Sozialministerin machte sie wieder Boden gut. Was überzeugte, war das Eingeständnis, man hätte früher offensiver informieren müssen. Im Interesse des Persönlichkeitsschutzes habe sie gegenüber der Öffentlichkeit bewusst geschwiegen. Auch im jüngsten Interview im Tagesanzeiger ist spürbar, dass Monika Stocker Verständnis gegenüber kritischen Stimmen hat. Früher oder später geht nämlich die Rechnung nicht mehr auf. Die Sozialleistungen werden nicht laufend erhöht werden können, wenn sonst in allen anderen Bereichen Geld fehlt und gespart werden muss.



Ein Tagesanzeiger Interview nach der Medienorientierung: mit Andres Büchi und Martin Huber:
TA: Frau Stocker, der Hotel-Fall, die Kostenexplosion im Sozialwesen, der Streit mit der Sozialkommission - Sie und Ihr Departement stehen derzeit gehörig unter Druck. Wie fühlen Sie sich in dieser Situation? Stocker: Ich bin besorgt um den Vertrauensverlust in der Bevölkerung, aber auch um das Wohl der so genannten Hotel-Familie. Meine engsten Mitarbeitenden und ich konzentrieren sich zurzeit voll auf dieses Thema. Ich hoffe nach wie vor, dass dieser einmalige Fall eine konstruktive Debatte auslöst und sich bald wieder eine gewisse Normalität um den Fall einstellt. Wie wollen Sie das angeschlagene Vertrauen wieder herstellen?
Ich werde zusammen mit dem Stadtrat und der Sozialbehörde überprüfen, in welcher Form künftig Notunterbringungen vollzogen werden sollen. Dabei geht es insbesondere um die Kompetenzregelung für Notunterbringungen in Hotels und Pensionen. Darüber hinaus werde ich weiterhin alles daran setzen, dass die Praxis der Sozialhilfe und ihre Hintergründe transparent und nachvollziehbar sind.
TA: Der Fall der "Hotel- Familie" scheint viele in der Meinung zu bestätigen, in Zürich werde Sozialhilfe zu grosszügig geleistet. Der Hotel-Fall ist ein absoluter Ausnahmefall, von dem man nicht auf die gesamte Sozialhilfepraxis in Zürich schliessen kann. Ich betone: Die Sozialhilfe in dieser Stadt ist effizient, professionell und keineswegs luxuriös. Die Grundsicherung ist in Zürich keinen Franken höher als anderswo, auch hier gelten die Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe. Und mit Verlaub: Mit 1000 Franken den Lebensunterhalt zu bestreiten in dieser Stadt mit ihren hohen Lebenshaltungskosten, ist keineswegs üppig.
TA: Manche Leute haben den Eindruck, es gebe etwas wenig Druck auf Sozialhilfeempfänger, eine Arbeit anzunehmen. Stocker: Das weise ich zurück. Es gibt klare Prinzipien. Wer integrationsfähig ist, muss sich selber um seine Wiedereingliederung bemühen. Die Höhe der Sozialhilfe wird abhängig gemacht von diesen Eigenanstrengungen. Wer nicht kooperationswillig ist, erhält nur das Minimum. Und wie kontrolliert das Sozialdepartement die Reintegration in den Arbeitsprozess? Jeder Fall wird sehr genau abgeklärt, erst dann wird der Entscheid über die Höhe der Sozialhilfe getroffen. Dazu kommen regelmässige Kontrollen durch die Sozialbehörde, es ist kein Laisser-faire.
TA: Wieso führen Sie nicht Kontrollen mit Sozialinspektoren ein, wie es sie in deutschen Städten und im luzernischen Emmen gibt? Stocker: Weil ich nicht zurück will in die Zeit des Erkundigungsdienstes, den wir bis Anfang der 90er-Jahre hatten. Ich will nicht, dass wieder Akten angelegt werden über Personen oder über allfälligen Frauenbesuch. Dieses Geld kann man gescheiter einsetzen. Aber: Die vom Gemeinderat gewählte Sozialbehörde ist in der Pflicht, sie muss die Kontrolle sicherstellen.
TA: Die Sozialausgaben in Zürich sind markant gestiegen, der Nettoaufwand beträgt unterdessen eine halbe Milliarde. Stocker: Das ist in erster Linie eine Folge der Arbeitslosigkeit. Der Aufschwung, von dem alle immer wieder sprechen, wird nicht beschäftigungswirksam. Die 500 Millionen Franken sind grossmehrheitlich gebundene Ausgaben, Leistungen, welche die Stadt von Gesetzes wegen zahlen muss.
TA: Was lässt sich dagegen tun? Ist das Niveau der Sozialhilfe zu hoch, oder müssen Einzelfälle härter beurteilt werden? Stocker: Keines von beidem, wir müssen wieder mehr Jobs haben. Ein frommer Wunsch . . . Man kann dem Staat nicht die Aufgabe zur Reintegration erteilen und ihm dann sagen, er dürfe kein Geld dafür ausgeben. Die grosse Herausforderung der nächsten Jahre wird es sein, eine Verrentung der Sozialhilfebezüger zu verhindern. Wir müssen die Leute unbedingt wieder aus der Sozialhilfe herausbringen. Bisher gelingt uns das bei immerhin 60 Prozent. Integration bleibt für mich das oberste Ziel der Sozialhilfe. Sonst droht eine Situation wie in den USA, wo die Städte kapituliert haben. Die Sozialvorsteherin von San Francisco sagt den Armen: "Ihr müsst gar nicht mehr zu mir kommen, geht zu den Kirchen, zu den Privaten." Das ist nicht das Modell, das wir wollen.
TA: Wenn die Sozialkosten auf Grund der konjunkturellen und demografischen Entwicklung weiter ansteigen, stehen Sie letztlich vor der Wahl, die Steuern zu erhöhen oder das Angebot herunterzuschrauben. Stocker: Das Angebot herunterschrauben würde bedeuten, die Integration zu verringern und in Kauf zu nehmen, dass die Betroffenen noch länger oder dauernd von der Sozialhilfe abhängig sind. Erstens ist die gesellschaftliche Solidarität dann noch mehr gefährdet, die Bevölkerung sieht nur noch Sozialfälle, die ihr Bier trinken, und nicht mehr jene, die in einem Beschäftigungsprogramm arbeiten, etwa im Naturwerk Sihlwald, wo sie der Gesellschaft ja auch etwas zurückgeben. Die Schliessung von Übernachtungs- und Wohneinrichtungen würde bedeuten, dass man Obdachlosigkeit in Kauf nimmt. Das wollen wir aber keinesfalls. Zürich ist traumatisiert durch die kollektive öffentliche Verwahrlosung am Letten. Dass wir heute keine Obdachlosigkeit und kaum Bettler haben, ist ein Standortvorteil, ebenso wie die Sicherheit, dass wir auch nachts in jedes Quartier gehen können.
TA: Aber kann sich die Stadt in Zukunft eine Sozialhilfe auf diesem Niveau noch leisten? Stocker: Die Frage ist, welchen politischen Auftrag man mir gibt. Wenn dieser lautet: In Zürich gibts keine offene Drogenszene, keine Obdachlosigkeit, in Zürich gibt es für Kinder von erwerbstätigen Eltern einen Betreuungsplatz und für junge Erwachsene Integrationsmassnahmen, dann hat das seinen Preis. Die Sozialhilfe muss immer mehr Probleme lösen, die früher durch eidgenössische Versicherungen aufgefangen wurden. Gerade die Städte müssen einen hohen Preis dafür bezahlen. Etwa in der Asylpolitik, für die Kürzung der Bezugsdauer in der Arbeitslosigkeit oder bei der Kürzung der kantonalen Beiträge zur Drogenhilfe.
TA: Wenn der Spardruck weiter steigt, müsste das Sozialdepartement dann nicht die Mittel auf die Grundversorgung konzentrieren und anderswo sparen? Stocker: Sozialhilfe, Zusatzleistungen, Jugend- und Familienhilfe kann nicht ich steuern, dort besteht ein gesetzlicher Auftrag. Wir haben den Grundbedarf 2 halbiert, wir haben das gemacht, was in unserem Handlungsspielraum möglich ist. Im Bereich Obdachlosenhilfe, Drogenhilfe, ergänzender Arbeitsmarkt und Kinderbetreuung haben wir ein Sparpaket von 8,9 Millionen Franken geschnürt, so etwas hat kein anderes Departement getan. Wir haben Einrichtungen geschlossen und bei der Soziokultur eine Plafonierung durchgesetzt. Nur wird der ganze Spareffekt wieder aufgefressen durch das 10-Millionen-Sparpaket des Kantons.
TA: Für 2005 sind im Sozialdepartement wieder 10 Millionen Franken Netto-Mehraufwand budgetiert. Müssten Sie nicht noch stärker Wünschbares von Notwendigem trennen? Stocker: Die Signale aus dem Gemeinderat sind manchmal widersprüchlich, wie das Hin und Her um die Schliessung des Zentrums Klus zeigt. Sparen geht immer nur so weit, bis es einen selber betrifft. Zudem werden die Probleme nicht kleiner: Wir bauen drei neue Städte in die Stadt hinein: Zürich Nord, West und Süd. Wir erwarten neue Einwohner, wir haben die globale Migration, die Alterung und die hohen Barrieren für den Berufseinstieg der Jungen. Die Stadt befindet sich in einer enormen Dynamik, und die hat auch Schattenseiten. Aber Zürich hat immer noch ein gutes soziales Netz, das allerdings etwas kostet.
TA: Wenn Sie dieses Netz beibehalten wollen, sind Sie auf einen Grundkonsens über die Sozialhilfe angewiesen, auch mit Ihren Gegnern. Ist der noch vorhanden? Stocker: Mit den SVP-Leuten in der Sozialbehörde ist der Grundkonsens da. Anders sieht es in der Sozialkommission des Gemeinderates aus. Da bin ich desillusioniert, weil Transparenz offensichtlich nicht mehr hilft. Aber bisher tragen ja die andern Parteien meine Politik mit, da bin ich zuversichtlich.


Kommentar: Monika Stocker argumentiert geschickt, eindeutig und konsequent. Die Argumentationsschritte tönen logisch. Sie geht gar nicht auf Mängel oder Sparvorschläge ein. Grundtenor: Ich habe einen Auftrag und den muss ich erfüllen. Ich kann nicht sparen, weil wir Ja gesagt haben zur Integration. Ich habe etwas gelernt von der Hotelgeschichte. Ich werde die Kompetenzregelung ändern. Der Hotelfall ist eine Ausnahme! Den Vorwurf, man übe zu weinig Druck auf die Sozialhilfempfänger aus, weist Stocker vehement zurück. Sie setzt mehrere Stopsignale. Wenn wir A sagen zum sozialen Netz, so müssen wir auch B sagen und zahlen.


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