
Lesen, und was dabei passiert
Rhetorik.ch Artikel zum Thema: |
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Bei Artikeln in Printmedien werden immer zuerst dei Titel, dann die
illustrationen betrachtet. Hernach wird der Lead ins Auge gefasst.
Beim Hauptbeitrag steigt der Leser oft nach ein paar Zeilen aus. Vor
allem, wenn Zwischentitel oder Abschnitte fehlten.
Bei einer Rede und beim Schreiben gilt deshalb:
Prägnante und verständliche Gedanken können leicht
als Ganzes erfasst werden
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Ein NZZ Artikel vom 27. Dezember fasst einige Mechanismen beim
Lesen zusammen.
Der Artikel basiert auf dem Buch von Stanislas Dehaene: "Lesen, die
groesste Erfindung der Menschheit und was dabei in unseren Köpfen passiert."
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Quelle: NZZ am Sonntag vom 27. Dezember, 2015
Wilhelm Heinse an Friedrich Jacobi (1780)
Heinse:
Es ist, als ob eine Wasserwelt in den Abgrund aus den Gesetzen der
Natur hinausrollte. Die Gewölbe der Schaumwogen im wütenden
Schuss flammt ein glühender Regenbogen wie ein Geist des Zorns
schräg herab. Keine Erinnerung, der stärkste Schwung der
Phantasie kann's der gegenwärtigen Empfindung nachsagen. Die Natur
zeigt sich ganz in ihrer Grösse. Die Allmacht ihrer Kräfte zieht
dauernd die kochenden Fluten herab und gibt den ungeheuern Wassermassen
die Eile des Blitzes. Es ist die allerhöchste Stärke, der
wütendste Sturm des grössten Lebens, das menschliche Sinnen
fassen können. Der Mensch steht klein wie ein Nichts davor da
und kann nur bis ins Innerste gerührt den Aufruhr betrachten.
Selbst der Schlaffste muss des Wassergebirggetümmels nicht satt
werden können. Der kälteste Philosoph muss sagen, es ist eine
von den ungeheuersten Wirkungen der anziehenden Kraft, die in die Sinne
fallen. Und wenn man es das hundertstemal sieht, so ergreift's einen
wieder von neuem, als ob man es noch nicht gesehen hätte. Es ist
ein Riesensturm, und man wird endlich ungeduldig, dass man ein so kleines
festes mechanisches zerbrechliches Ding ist und nicht mit hineinkann. Der
Perlenstaub, der überall wie von einem grossen wütenden Feuer
herumdampft und wie von einem Wirbelwind herumgejagt wird und allen den
grossen Massen einen Schatten erteilt oder sie gewitterwolkicht macht,
bildet ein so fürchterliches Ganzes mit dem Flug und Schuss und
Drang, und An- und Abprallen, und Wirbeln und Sieden und Schäumen in
der Tiefe, und dem Brausen und dem majestätischen, erdbebenartigen
Krachen dazwischen, dass alle Tiziane, Rubense und Vernets vor der
Natur müssen zu kleinen Kindern und lächerlichen Affen
werden. O Gott, welche Musik, welches Donnerbrausen, welch ein Sturm
durch all mein Wesen! Heilig! heilig! heilig! brüllt es in Mark
und Gebein. Kommt und lasst euch die Natur eine andre Oper vorstellen,
mit andrer Architektur und andrer Fernmalerei und andrer Harmonie und
Melodie, als die von jämmerlicher Verschneidung mit einem winzigen
Messer euch entzückt. Es ist mir, als ob ich in der geheimsten
Werkstatt der Schöpfung mich befände, wo das Element von
fürchterlicher Allgewalt gezwungen sich zeigen muss, wie es ist,
in zerstürmten und ungeheuern grossen Massen. Und doch lässt
das ihm eigentümliche Leben sich nicht ganz bändigen und
schäumt und wütet und brüllt, dass die Felsen und die
Berge nebenan erzittern und erklingen und der Himmel davor sein klares
Antlitz verhüllt und die flammende Sommersonne mit mildern Strahlen
dreinschaut.
Es ist der Rheinstrom: und man steht davor wie vor dem Inbegriff aller
Quellen, so aufgelöst ist er; und doch sind die Massen so stark,
dass sie das Gefühl statt des Auges ergreifen, und die Bewegung
so trümmernd heftig, dass dieser Sinn ihr nicht nachkann und die
Empfindung immer neu bleibt und ewig schauervoll und entzückend.
Man hört und fühlt sich selbst nicht mehr, das Auge sieht
nicht mehr und lässt nur Eindruck auf sich machen; so wird man
ergriffen und von nie empfundenen Regungen durchdrungen. Oben und unten
sind kochende Staubwolken, und in der Mitte wälzt sich blitzschnell
die dicke Flut wie grünlichtes Metall mit Silberschaum im Fluss;
unten stürzt es mit allmächtiger Gewalt durch den kochenden
Schaum in den Abgrund, dass er wie von einer heftigen Feuersbrunst sich in
Dampf und Rauch auflöst und sich über das weite Becken wirbelt
und kräuselt. An der linken Seite, wo sein Strom am stärksten
sich hereinwälzt, fliegt der Schuss wie Ballen zerstäubter
Kanonenkugeln weit ins Becken und gibt Stösse an die Felsenwand
wie ein Erdbeben. Rundum weiterhin ist alles Toben und Wüten, und
das Herz und die Pulse schlagen dem Wassergotte wie einem Alexander nach
gewonnener Schlacht.
W. Heinse an F. Jacobi, 15. August 1780. In: Wilhelm Heinse:
Sämtliche Werke. Hrsg. von Carl Schüddekopf. 10 Bände in
13 Bänden. Leipzig: Insel 1903-1910. Hier Bd. 10, S. 33. Zit. nach
Wilhelm Heinse: Vom grossen Leben. Zusammengestellt u. eingeführt
von Richard Benz. München: Piper 1943, S. 61-63.