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www.rhetorik.ch aktuell: (2. April, 2005)

Missbrauch von Leiden in den Medien



Dank der Medien sind Millionen Zeugen der Leiden des Papstes und der Wachkomapatientin Terri Schiavo geworden.

Der folgende Artikel ist am 2. April in den "Schaffhauser Nachrichten" erschienen.








Der ergreifende Auftritt des "Medienpapstes" Johannes Paul II. am Fenster in Rom beim Versuch, den Ostersegen zu erteilen, wurde von 104 TV-Sendern in über 70 Länder der Welt übertragen. Das schmerzverzerrte Gesicht und das Leiden des sprachlosen Papstes wurden einem Millionenpublikum zur Schau gestellt. Auch Terri Schiavo, die seit einem Herzstillstand vor 15 Jahren schwer hirngeschädigt war und am Donnerstag verstarb, stand seit Wochen als Komapatientin im Rampenlicht der Medien. Auch hier konnte das Leiden am Bildschirm seit Wochen in der guten Stube mitverfolgt werden.

Zur Schau gestellt

Die Fälle haben etwas gemeinsam: Beide Personen wurden der Öffentlichkeit zur Schau gestellt. Das Leiden beider "Medienopfer" konnte von einem Millionenpublikum laufend verfolgt werden, doch gab es bei ihnen einen wesentlichen Unterschied: Der Papst konnte selbst (gemeinsam mit dem Vatikan) darüber entscheiden, ob er sein Leiden öffentlich machen will. Beim "Zelebrieren" des Leidens des Pontifex gab er stets zu den Übertragungen sein Einverständnis. Die komatöse Terri Schiavo hingegen konnte nie mitentscheiden bei den Veröffentlichungen ihrer persönlichen Bilder und Filmsequenzen. Wir finden deshalb die "Vermarktung" der Aufnahmen dieser Patientin menschenunwürdig. Auch bei den Medien geht es um Fragen der Ethik und Menschenwürde. Darüber, ob Leiden aus den Berichterstattungen ausgeklammert bleiben sollten, kann man geteilter Meinung sein. Dennoch bleibt auch beim Papst die Frage offen, ob ein leidender Mensch so oft in der Öffentlichkeit "vorgeführt" werden darf.

Unwürdige Aufnahmen

Wie erwähnt: Dass die zum Teil unwürdigen Aufnahmen des leidenden Papstes (Nahaufnahmen) gezeigt wurden, müssen Vatikan und Pontifex selbst verantworten. Beim Papst können wir nicht allein den Medien die Schuld in die Schuhe schieben. Die fragwürdigen Bilder, die wir seit Monaten zu sehen bekamen (Zusammenbruch, Wortfindungsstörungen, Verlust des Sprechvermögens), wurden alle offiziell zugelassen, vielleicht sogar bewusst gebilligt - nach dem Motto: "Im Leiden liegt Gnade." Der Papst begründete das Offenlegen dieser Szenen mit Gedanken wie: "Jesus hat auch ausgeharrt." (Ich trete nicht zurück.) "Leiden, Schmerzen, Krankheiten gehören zur menschlichen Natur und dürfen nicht versteckt werden."

Kommerzielle Interessen

Dem Vatikan müsste dennoch bewusst sein, dass den Medien Bilder des Schmerzes, der Trauer und des Leidens sehr willkommen sind. Es geht bei solchen Aufnahmen auch um kommerzielle Interessen. Derartige Bilder garantieren Einschaltquoten. Wie bei den üblichen Home-Storys geht es nicht nur bei den Boulevardmedien um Aussergewöhnliches, um Privates. Persönliches, Emotionales ist immer erwünscht. Das gibt "Geschichten", die Marktanteile bringen.

Grenzen der Darstellung

Bei der Frage nach den Grenzen der Darstellung des Leidens in den Medien gilt es ferner zu bedenken: Das Offenlegen von persönlichem Leid am Bildschirm ist stets eine Gratwanderung. Die Journalisten haben eine Informationspflicht. Doch finden wir das mediale Begleiten menschlichen Leidens in beiden Fällen (Papst und Komapatientin) fragwürdig, besteht doch die Gefahr, dass der Tod zum Medienspektakel wird. Die Frage ist berechtigt: Kann die Zurschaustellung des Leidens vor Mikrofon und Kamera nicht auch dann menschenunwürdig sein, wenn der Betroffene mit der Veröffentlichung einverstanden war? Nicht abgeschlossen Der eine der beiden Fälle ist abgeschlossen (Schiavo), der andere nicht. Es ist denkbar, dass die Medien den Leidensweg des Papstes bis hin zum Tod hautnah weiter verfolgen. Die Fortsetzungsgeschichte findet gewiss ein grosses Publikumsinteresse. Der Krankheitszustand des Papstes verschlechterte sich gestern dramatisch, er erhielt die letzten Sakramente. Gewiss könnten die Macher nachträglich begründen, weshalb die Bilder und Filme bis hin zum Tod veröffentlicht werden mussten. Die Argumente liegen in der Luft, wie:
  • Es erfolgte im Interesse der Öffentlichkeit (Informationspflicht).
  • Wir wollten die Bilder zeigen, damit die entsprechenden Gesetze angepasst werden (Sterbehilfe usw.).
  • Dank der veröffentlichten Bilder kann sich die Einstellung der Bevölkerung zum Leiden verändern.

Voyeuristischer Reiz

Weder Paparazzi, Verleger noch Konsumenten werden offen eingestehen, dass die Leidensbilder einen voyeuristischen Reiz ausüben und sich die intimen Aufnahmen vor allem gut vermarkten lassen. Kaum jemand wird zugeben, dass die Leidensbilder auch von den eigenen Nöten ablenken können. So oder so: Das Leiden eines Lebewesens darf nie zum Medienspektakel verkommen.

SN vom Samstag 2. April 2005 Archiv




Nachtrag vom 10. April, 2005: Rich: "Eine Kultur des Todes, nicht des Lebens": In einer "New York Times" Kolumne "Eine Kultur des Todes, nicht des Lebens", schreibt Frank Rich am 10. April, 2004:

"Der Tod - je graphischer, desto besser - ist momentan das Grösste in Amerika. Zwischen Terri Schiavo und dem Papst haben wir uns für fast einen Monat an zerfallenden Körpern ergötzt. Die sorgfältig editierten Videoscenen von Frau Schiavo sind wohl als medizinische Beweise wertlos. Als Nekro-Pornographie haben sie aber an Bedeutung mit den besten Fernsehunterhaltungssparten gleichgezogen."

Frank Rich beschreibt auch die Rolle von Fernsehsendern wie"Fox News". Thom Bird, ein Produzent dieses Senders soll vor dem Tod des Papstes gesagt haben: "Wir werden bei dieser Geschichte alle Register ziehen". Tatsächlich seien alle Register gezogen worden, unter anderen eine falsche Ankündigung 26 Studen vor dem Tod des Papstes.

Rich findet die Geschmacklosigkeit weniger erstaunlich. Amerika werde sich immer an Randgeschichten ergötzen. Viel mehr erschreckend seien die tieferliegenden Absichten. Wenn die Kultur des Todes sich mit den Interessen der Politiker verstricke, dann beginne das Leben Schaden zu nehmen.

Rich vergleicht diese zwei letzten Kapitel des Fernsehens mit Realityshows, die der apokalyptischen Rechten die kulturelle Grundlage für einen grösser werdenden theokraktischen Kreuzzug gibt.




Nachtrag vom 13. April, 2005: In einem Essay "Das Todesspektakel" fragt Georg Seesslen im Spiegel vom 12. April 2005:

Hat das öffentliche Sterben des Papstes einen tieferen Sinn? Die Inszenierung von Rom bedient einerseits den Mythos der christlichen Ur-Passion, gleichzeitig unterdrückt die gewaltige Bilder- und Erzählmaschine jede aufklärerische Skepsis.

Was treibt Menschen mit unterschiedlichen Weltanschauungen und Interessen, und Glauben zum nekrophilen Woodstock auf den Petersplatz? In Rom versammelte sich der grösste "flash mob" des neuen Jahrtausends, wie magisch angezogen von einem grossartigen Authentizitäts-Versprechen: Die grösstmögliche geistig-moralische Abstraktion verursachte im Zusammenprall mit der grösstmöglichen körperlichen Intimität das nächste erhabene Katastrophenbild.

Aber ist der Tod eines Papstes in gesegnetem Alter denn etwas Katastrophisches? Auf jeden Fall scheint sich das Publikum auf eine ganz ähnliche Weise zu bedienen, wie bei Katastrophenwellen. Mühelos schreiben sich nationalistische, melodramatische, sektiererische, politische Impulse ins Spektakel ein.

Ist wer gegen das Spektakel spricht, ist gefühllos und dumm? In der medialen Vervielfältigung ist das Spektakel des öffentlichen Todes zugleich demokratisiert und terrorisiert. Man könnte seinen Konsum selber steuern - man muss ja nicht fernsehen und kann auf gewisse illustrierte Blätter verzichten. Doch dem Todesspektakel ist nicht zu entkommen; allein der Wunsch, es zu tun, erscheint ketzerisch. Wer gegen das Spektakel spricht, ist gefühllos, kalt und dumm.

Nach Seesslen hat ein multimediales Spektakel, gleichgültig ob Naturkatastrophe, Fürstenhochzeit, Kindermord oder Prominententod, die Form eines fünfaktigen Dramas:
  • 1. Akt: Das Ereignis. Erzeugt Entsetzen.
  • 2. Akt: Hektische Bilderproduktion. Erzeugt endloses Schwätzen.
  • 3. Akt: Soziale Explosion. Macht aus Zuschauern Akteure.
  • 4. Akt: Erneute Bilderproduktion. Das Geschehen ist entgültig Spektakel.
  • 5. Akt: Katzenjammer. Schuldgefühl über Bilderproduktionsrausch.


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