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Rede von Schröder vom 14. März, 2003

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Regierungserklärung von Bundeskanzler Schröder am 14. März 2003 vor
dem Deutschen Bundestag

Schröder: "In der Verantwortung für die Zukunft unseres Landes habe
ich dieser Regierungserklärung ein doppeltes Motto vorangestellt.
Es beschreibt, worum es heute geht: Mut zum Frieden und Mut zur
Veränderung."

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!

In der Verantwortung für die Zukunft unseres Landes habe ich der
Regierungserklärung ein doppeltes Motto vorangestellt. Es beschreibt,
worum es heute geht: Mut zum Frieden und Mut zur Veränderung.

Wir müssen den Mut aufbringen, für den Frieden zu kämpfen, solange
noch ein Funken Hoffnung besteht, dass der Krieg vermieden werden
kann.

Wir müssen den Mut aufbringen, in unserem Land jetzt die Veränderungen
vorzunehmen, die notwendig sind, um wieder an die Spitze der
wirtschaftlichen und der sozialen Entwicklung in Europa zu kommen.

Die Lage - das spürt jeder hier im Haus, aber auch draußen - ist
international wie national äußerst angespannt. Die Krise um den Irak
belastet weltweit die ohnehin labile Konjunktur.

Deutschland hat darüber hinaus - das gilt es ebenfalls zu sehen - mit
einer Wachstumsschwäche zu kämpfen, die auch strukturelle Ursachen
hat. Die Lohnnebenkosten haben eine Höhe erreicht, die für die
Arbeitnehmer zu einer kaum mehr tragbaren Belastung geworden ist und
die auf der Arbeitgeberseite als Hindernis wirkt, mehr Beschäftigung
zu schaffen. Investitionen und Ausgaben für den Konsum sind drastisch
zurückgegangen, übrigens nicht zuletzt seit an den Börsen allein in
Deutschland während der vergangenen drei Jahre rund 700 Milliarden
Euro buchstäblich vernichtet worden sind.

In dieser Situation muss die Politik handeln, um Vertrauen wieder
herzustellen.

Wir müssen die Rahmenbedingungen für mehr Wachstum und für mehr
Beschäftigung verbessern.

Ich möchte Ihnen heute Punkt für Punkt darlegen, welche Maßnahmen nach
Überzeugung der Bundesregierung vorrangig ergriffen und umgesetzt
werden müssen - für Konjunktur und Haushalt, für Arbeit und
Wirtschaft, für die soziale Absicherung im Alter und bei Krankheit.

Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern
und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen.

Alle Kräfte der Gesellschaft werden ihren Beitrag leisten müssen:
Unternehmer und Arbeitnehmer, freiberuflich Tätige und auch Rentner.
Wir werden eine gewaltige gemeinsame Anstrengung unternehmen müssen,
um unser Ziel zu erreichen.

Aber ich bin sicher: Wir werden es erreichen.

Bevor ich zu den Einzelheiten komme, verlangt die dramatische
internationale Lage einige deutliche Worte zur Krise in und um den
Irak. In den vergangenen Tagen und Wochen hat die Bundesregierung ihre
Anstrengungen noch einmal verschärft, diese Krise politisch zu lösen.
Gemeinsam mit unseren französischen Freunden, aber auch mit Russland,
China und der Mehrheit im Weltsicherheitsrat sind wir mehr denn je
davon überzeugt, dass die Abrüstung von Massenvernichtungsmitteln im
Irak mit friedlichen Mitteln herbeigeführt werden kann und
herbeigeführt werden muss.

Die Berichte der Waffeninspekteure zeigen, dass der Irak unter dem
Druck der internationalen Gemeinschaft inzwischen besser und auch
aktiver kooperiert.

Die Zerstörung der aI-Samud-Raketen ist ein sichtbares Zeichen
tatsächlicher Abrüstung. Das beweist: Die Inspektionen und die
Inspekteure sind ein wirksames Instrument, das jetzt nicht beendet
werden darf.

Mit einem ausgedehnten Inspektionsregime können wir nachhaltige und
nachprüfbare Abrüstung erreichen. Deshalb war und bleibt es richtig,
dass wir auf der Logik des Friedens beharrt haben, anstatt in eine
Logik des Krieges einzusteigen.

Der Irak muss unter internationaler Kontrolle umfassend und
nachvollziehbar abrüsten, übrigens auch deshalb, damit die
Wirtschaftssanktionen, unter denen vor allen Dingen das irakische Volk
leidet, gelockert und schließlich aufgehoben werden können. Das sind
die Bedingungen, unter denen Frieden und Freiheit gedeihen können. Wir
sollten daran festhalten, mit all unserer Kraft mitzuhelfen, dass
diese Bedingungen realisiert werden können.

Wir werden sowohl unsere Verantwortung als auch unsere mitgestaltende
Rolle in einer multipolaren Weltordnung des Friedens und des Rechts
nur dann umfassend wahrnehmen können, wenn wir das auf der Basis eines
starken und geeinten Europas tun. Es geht um die Rolle Europas in der
internationalen Politik. Aber es geht auch um die Unabhängigkeit
unserer Entscheidungen in der Welt von morgen.

Beides - auch das ist Gegenstand dieser Debatte - werden wir nur
erhalten können, wenn wir wirtschafts- und sozialpolitisch beweglicher
und solidarischer werden, und zwar in Deutschland als dem größten Land
in Europa, was die Wirtschaftskraft angeht, und damit natürlich auch
in Europa.

Diesen Zusammenhang zwischen unseren wirtschaftlichen und damit auch
unseren sozialen Möglichkeiten einerseits und unserer eigenen Rolle in
Europa und Europas Rolle in der Welt andererseits darf man nicht aus
den Augen verlieren; denn er ist für uns und unsere Gesellschaft
genauso wichtig wie für unsere Partner in Europa.

Dieses Europa ist eben mehr als die Summe seiner Institutionen und
mehr als ein gemeinsamer Binnenmarkt. Deutschland hat dazu unter allen
Bundesregierungen entscheidend beigetragen. Europa ist eine Idee, der
wir uns verpflichtet fühlen, eine Idee des geeinten Kontinents, der
Kriege und Nationalismen überwunden hat oder dabei ist, sie zu
überwinden. Heute kann und muss Europa Frieden und Stabilität,
Gerechtigkeit und wirtschaftliche Kraft sowie Entwicklungschancen
exportieren. Auch dafür müssen wir uns fit machen.

Deutschland leistet hierzu - das dürfen wir ruhig selbstbewusst, ja
sogar stolz sagen - einen entscheidenden Beitrag, politisch wie
finanziell. Wir finanzieren die Europäische Union zu einem Viertel.
Wir zahlen jedes Jahr rund 7 Milliarden Euro mehr in die europäischen
Kassen ein, als wir zurückbekommen. Das macht uns mit Abstand zum
größten Nettozahler der Gemeinschaft. Wir akzeptieren das nicht nur,
weil diesem Europa die Überzeugung zugrunde liegt, dass Kooperation
besser ist als Konfrontation - ich denke, darüber sind wir uns in
diesem Hohen Hause einig -, sondern auch, weil unser europäisches
Sozialmodell, das auf Teilhabe beruht statt auf ungezügelter
Herrschaft des Marktes, nur gemeinsam gegen die Stürme der
Globalisierung wetterfest gemacht werden kann.

Um in Europa eine führende Position einnehmen zu können, haben wir
gemeinsam mit Frankreich und Großbritannien für die beiden
bevorstehenden Gipfel in Brüssel und Athen Vorschläge für eine
europäische Industriepolitik erarbeitet. Mit diesen Vorschlägen wollen
wir dafür sorgen, dass zum Beispiel die Schiffbau- und die
Chemieindustrie auch in Europa eine Zukunft haben. Denn die Industrie
ist - das ist in Brüssel gelegentlich vernachlässigt worden - das
Fundament unserer Wirtschaft. Deshalb müssen wir die
Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie verbessern. Das ist
die Grundidee meiner gemeinsamen industriepolitischen Initiative mit
Staatspräsident Chirac und Premierminister Blair, die wir unseren
Partnern in der nächsten Woche auf dem Gipfel in Brüssel vorlegen
werden.

Meine Damen und Herren, ich habe das Stichwort "Mut zur Veränderung"
auch und gerade im Innern unseres Landes bereits genannt. Um unserer
deutschen Verantwortung in und für Europa gerecht zu werden, müssen
wir zum Wandel im Innern bereit sein. Entweder wir modernisieren, und
zwar als soziale Marktwirtschaft, oder wir werden modernisiert, und
zwar von den ungebremsten Kräften des Marktes, die das Soziale
beiseite drängen würden.

Die Struktur unserer Sozialsysteme ist seit 50 Jahren praktisch
unverändert geblieben. An manchen Stellen, etwa bei der Belastung der
Arbeitskosten, führen Instrumente der sozialen Sicherheit heute sogar
zu Ungerechtigkeiten. Zwischen 1982 und 1998 sind allein die
Lohnnebenkosten von 34 auf fast 42 Prozent gestiegen.

Daraus ergibt sich nur eine Konsequenz: Der Umbau des Sozialstaates
und seine Erneuerung sind unabweisbar geworden. Dabei geht es nicht
darum, ihm den Todesstoß zu geben, sondern ausschließlich darum, die
Substanz des Sozialstaates zu erhalten. Deshalb brauchen wir
durchgreifende Veränderungen.

Hierzu hat die Regierung in den vergangenen Jahren vieles auf den Weg
gebracht.

Wir und nicht Sie haben die kapitalgedeckte private Vorsorge, die die
zweite Säule der Rentenversicherung darstellt, auf den Weg gebracht.

Diese private Vorsorge als zweite Säule unter das Dach der
Altersversorgung und Alterssicherung zu stellen, das haben viele große
Länder in Europa noch vor sich. Unter Ihrer Führung ist mit solchen
Reformen nie begonnen worden, geschweige denn dass sie je zu Ende
gebracht worden sind.

Wir haben eine mehrstufige Steuerreform beschlossen, die Bürger und
Unternehmen um insgesamt 56 Milliarden Euro entlastet.

Wir haben die Gesellschaft modernisiert: in der Energiepolitik, im
Familienbereich und beim Staatsangehörigkeitsrecht ebenso wie durch
eine moderne Zuwanderungsregelung, der Sie sich nicht verschließen
dürfen, wenn Sie ernsthaft für Reformen in diesem Land eintreten
wollen.

Wir haben unsere Investitionen in Forschung verstärkt und damit
begonnen, die Bedingungen für schulische und vorschulische Bildung zu
verbessern. Es gilt aber einzuräumen: Wir haben feststellen müssen,
dass diese Schritte nicht ausreichen. Vor allem reicht auch die
Geschwindigkeit, mit der wir unsere Strukturen den veränderten
Bedingungen anpassen, nicht aus. Das ist der Grund, warum wir bei den
Veränderungen weitergehen müssen.

Unsere Agenda 2010 enthält weitreichende Strukturreformen.

Diese werden Deutschland bis zum Ende des Jahrzehnts bei Wohlstand und
Arbeit wieder an die Spitze bringen.

Dadurch werden die Gerechtigkeit zwischen den Generationen gesichert
und die Fundamente unseres Gemeinwesens gestärkt.

Meine Damen und Herren, ich hatte Ihnen versprochen, die Maßnahmen,
die wir in den Bereichen, die ich genannt habe, planen, Punkt für
Punkt zu erläutern.

Dabei geht es vor allen Dingen um drei Bereiche:

Der erste ist "Konjunktur und Haushalt". Die dramatische
Wirtschaftslage zwingt uns dazu, eine neue Balance zwischen
Konsolidierung, konjunkturellen Impulsen und steuerlicher Entlastung
zu schaffen.

Wir werden dabei nicht den Weg gehen, einseitig und egoistisch nur
diejenigen zu entlasten, die heute aktiv sind, die Kosten aber durch
Verschuldung auf künftige Generationen abzuwälzen. Das ist kein
verantwortbarer Weg.

Deshalb halten wir am Ziel der Haushaltskonsolidierung und am
Stabilitätspakt, den wir vereinbart haben, fest. Nur: Dieser Pakt darf
eben nicht statisch interpretiert werden.

Er lässt Raum und er muss auch Raum lassen für Reaktionen auf
unvorhergesehene Ereignisse. Phasen wirtschaftlicher Schwäche - in
Deutschland und in Europa sind wir in einer solchen - dürfen eben
nicht durch prozyklische Politik ausgeglichen werden.

Wir sind uns in Europa mit unseren Partnern einig, dass wir auch
Möglichkeiten zu Reaktionen auf unvorhersehbare Ereignisse brauchen,
die möglicherweise als Folgen der Verschärfung von Krisen in Regionen
in der Welt eintreten. Auch diese Möglichkeit gibt der Stabilitätspakt
durchaus her. Wir werden diese Möglichkeiten zusammen mit unseren
Partnern offensiv nutzen.

Allerdings: Der Verweis auf den Stabilitätspakt und die europäische
Verantwortung darf nicht als Ausrede benutzt werden, jetzt hier nichts
zu tun. Auch in der jetzigen Situation müssen und wollen wir
Wachstumsimpulse setzen. Das muss für die Ermunterung privater
Investitionen ebenso gelten wie für die öffentlichen Investitionen,
insbesondere für die in den Kommunen.

Wir sind verpflichtet, gerade in Zeiten geringen Wachstums oder
wirtschaftlicher Stagnation die öffentlichen Investitionen auf hohem
Niveau zu halten.

Der Bund - wir werden das bei den Haushaltsberatungen diskutieren -
kommt dieser Verantwortung durchaus nach.

Die Investitionen im Bundeshaushalt steigen in diesem Jahr auf
26,7 Milliarden Euro.

Wir werden aber auch die Finanz- und Investitionskraft der Kommunen
nachhaltig stärken müssen. Dabei setzen wir auf folgende Maßnahmen:

Erstens. Zur sofortigen Entlastung der Gemeinden beabsichtigt die
Bundesregierung, sie von ihrem Beitrag zur Finanzierung des
Flutopferfonds zu befreien.

Das bringt Mehreinnahmen in einer Höhe von 800 Millionen Euro.

Zweitens. Das Steuervergünstigungsabbaugesetz und die Abgeltungsteuer
werden voraussichtlich noch in diesem Jahr zu Mehreinnahmen von rund
1 Milliarde Euro führen.

Jede einzelne Maßnahme wird blockiert. Auf jede Blockade, die Sie
machen, erfolgt eine neue Forderung. Das ist vollkommen
unverantwortlich. Damit werden Sie nicht lange durchkommen. Seien Sie
sich dessen ganz sicher!

Drittens. Wir werden die Kommunen ab dem 1. Januar 2004 von der
Zahlung für die arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger entlasten. Das
heißt, für bis zu 1 Million Sozialhilfeempfänger wird künftig die
Bundesanstalt für Arbeit materiell zuständig sein.

Die Gemeinden werden dadurch in Milliardenhöhe entlastet. Sie gewinnen
Gestaltungsspielraum, den sie zum Beispiel für Investitionen bei der
Kinderbetreuung nutzen können.

Es muss aber auch klar sein: Diese Regelung soll die Kommunen nicht
von ihrer Verantwortung entbinden, mitzuhelfen und alles dafür zu tun,
dass Menschen Arbeit in den Strukturen finden, die bei den Kommunen
aufgebaut worden sind. Die unterschiedliche Finanzierung darf nicht zu
geteilter Verantwortung führen.

Viertens. Die Bundesregierung wird zum 1. Januar 2004 die
Gemeindefinanzen grundlegend reformieren. Zurzeit arbeitet eine
Kommission, an der Sie, wie Sie wissen, beteiligt sind, mit Hochdruck
an einer Umsetzung dieser Reform. Im Mittelpunkt wird übrigens nach
unserer Auffassung eine erneuerte Gewerbesteuer stehen, die die
Einnahmen verstetigt und den Gemeinden mehr Eigenverantwortung gibt.

Auch an diesem Punkt werden Sie zeigen können, ob Sie bereit sind,
Verantwortung für das Ganze zu übernehmen, oder ob Sie weiterhin
allein aus parteipolitischer Orientierung egoistisch Ihr eigenes
Süppchen kochen wollen.

Fünftens. Wir werden über die Kreditanstalt für Wiederaufbau ein
Investitionsvolumen in Höhe von insgesamt 15 Milliarden Euro
mobilisieren:

7 Milliarden Euro für ein kommunales Investitionsprogramm und
8 Milliarden Euro für die private Wohnungsbausanierung. Für dieses
Investitionsprogramm wird der Bund aus eigenen Mitteln eine attraktive
Refinanzierung sicherstellen. Das kommunale Programm ist für
längerfristige Projekte in den Bereichen Wasser und Abwasser,
Abfallwirtschaft sowie kommunale und soziale Infrastruktur bestimmt.
Dieses Programm - dessen bin ich sicher - sorgt vor allen Dingen für
Arbeit in der Bauwirtschaft und im Handwerk. Es kommt den Bürgerinnen
und Bürgern und denen unmittelbar zugute, die in kleinen und
mittelständischen Betrieben arbeiten.

Für Kommunen mit besonderen Strukturproblemen und
überdurchschnittlicher Arbeitslosigkeit werden die ohnehin attraktiven
Zinskonditionen noch einmal deutlich verbessert. Das wird zu mehr
Investitionen führen. Mir liegt aber daran, festzustellen, dass dies
kein kurzfristiges und schuldenfinanziertes Konjunkturprogramm ist.
Wir werden dafür weder neue Schulden aufnehmen noch Steuern erhöhen.

Dieses Programm ist die notwendige Ergänzung zu unseren
Strukturreformen auf der Angebotsseite, die ich Ihnen erläutern werde.
Beides bedingt einander: Ohne Strukturreformen verpufft jeder
Nachfrageimpuls. Ohne konjunkturelles Gegensteuern laufen die Reformen
indessen ins Leere.

Deswegen setzen wir an beiden Seiten an. Wir werden - wie geplant -
die nächsten Stufen der Steuerreform mit einem Entlastungsvolumen von
rund 7 Milliarden Euro am 1. Januar 2004 und von 18 Milliarden Euro am
1. Januar 2005 ohne Abstriche umsetzen.

Der Eingangssteuersatz wird dann gegenüber 1998 von 25,9 auf
15 Prozent und der Spitzensteuersatz von 53 auf 42 Prozent sinken.

Mehr ist nicht zu verkraften. Das muss man klar gegenüber denjenigen
sagen, die als Patentrezept Steuersenkungen, bis der Staat
draufzuzahlen hat, anbieten. Auch das gehört zur Wahrheit in diesem
Land.

Wollte man die Forderungen, die in die Welt gesetzt werden - sie gehen
übrigens keineswegs nur zulasten des Bundes, sondern auch zulasten der
Länder und der Kommunen; das wissen Sie doch alle -, wirklich
realisieren, ginge das nur über eine Neuverschuldung oder die Erhöhung
von Verbrauchsteuern. Anders wäre das nicht vernünftig finanzierbar.

Beide Wege, die Erhöhung der Verbrauchsteuern, hier der
Mehrwertsteuer, und eine Verschuldung in dieser Größenordnung, sind
nicht zu verantworten. Deshalb bleibt es bei den Festlegungen, die wir
getroffen haben. Das ist planbar für die Steuerbürgerinnen und -bürger
und für die Unternehmen und das ist der richtige Weg.

Wir werden zudem die Abgeltungsteuer auf Zinserträge einführen und
dadurch erreichen, dass im Ausland angelegte Gelder straffrei zurück
transferiert werden.

Der Sinn der Abgeltungsteuer ist nicht zuletzt derjenige, dass wir auf
diese Weise Geld, das im Ausland liegt, zurückholen. Es ist doch
besser, es arbeitet in Leipzig oder Gelsenkirchen, als dass es in
Liechtenstein schwarz Zinsen bringt. Das ist der Sinn dieser Regelung.

Wir brauchen Kontrollen. Sie sollten unbürokratisch, aber wirksam
sein. Über die Art und Weise, wie das geschieht, sind wir gegenüber
denjenigen, die das in der zweiten Kammer mitzuentscheiden haben,
durchaus gesprächsbereit. Über die Ausgestaltung dieser Kontrollen
werden wir mit der Mehrheit im Bundesrat zu reden haben. Ich bin
sicher, dass wir aus der Sache heraus eine Einigung finden, weil das
Ziel, das wir verfolgen, vernünftig ist und eigentlich jedem
einleuchten müsste.

Es muss in diesem Zusammenhang Verlass darauf sein, dass mit dieser
Operation nur diese und keine anderen Ziele verfolgt werden.

Wir werden Gewinne aus Veräußerungen - das ist beschlossen - in
Zukunft besteuern. Die Kehrseite ist, dass deshalb die Substanz von
Vermögen steuerfrei bleiben kann. Auch das muss klargestellt werden.

Arbeit und Wirtschaft, das ist das Herzstück unserer Reformagenda.
Eine dynamisch wachsende Wirtschaft und eine hohe Beschäftigungsquote
sind die Voraussetzungen für einen leistungsfähigen Sozialstaat und
damit für eine funktionierende Soziale Marktwirtschaft. Wir wollen das
Ziel nicht aufgeben, dass jeder, der arbeiten kann und will, dazu auch
die Möglichkeit bekommt.

Wir haben die Arbeitsmärkte deshalb für neue Formen der Beschäftigung
und der Selbstständigkeit geöffnet. Wir haben das Programm "Kapital
für Arbeit" aufgelegt. Wir haben die Bedingungen für die Vermittlung
der Arbeitslosen durchgreifend verbessert. Wir haben Rechte und
Pflichten der Arbeitsuchenden in ein neues Gleichgewicht gebracht.

Wir sind dabei, die Bundesanstalt für Arbeit so umzubauen, dass sie
ihrer eigentlichen Aufgabe nachkommen kann, nämlich Arbeitslose in
Arbeit zu vermitteln und sie nicht bloß zu verwalten.

In den letzten Monaten haben wir - teilweise auch gemeinsam -
erhebliche Anstrengungen unternommen, den Arbeitsmarkt weiter zu
flexibilisieren: Wir haben die Zeit- und Leiharbeit von bürokratischen
Beschränkungen befreit und so aufgewertet, dass die Unternehmen ihren
Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften flexibel decken können. Wir
haben die gering bezahlten Jobs bis 800 Euro massiv von Abgaben
entlastet.

Diese Rahmenbedingungen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit werden wir
weiter deutlich verbessern.

Unser System der Arbeitsvermittlung hat unverkennbare Schwächen. Zu
Zeiten der Vollbeschäftigung fiel das nicht weiter ins Gewicht und
dann haben wir uns 20 Jahre Diskussionen geleistet, ohne die
Fehlentwicklungen zu korrigieren.

Wir haben die nötigen Reformen angepackt. Aber jetzt müssen die
Unternehmen, die offene Stellen zu besetzen haben, diese Angebote
einer erneuerten Arbeitsverwaltung auch annehmen.

Wir haben die Möglichkeiten zur befristeten Beschäftigung verlängert,
wie es gefordert worden ist, für die über 50-Jährigen sogar ohne
zeitliche Grenze. Auch das ist eine Maßnahme, um ältere Arbeitslose
wieder in Beschäftigung zu bringen. Ich appelliere an die Wirtschaft,
das auch zu tun. Denn es ist nicht Sache der Bundesregierung, sondern
der Unternehmen, so zu verfahren, dass auch jemand, der 50 oder älter
ist, im Betrieb seine Chance behält oder wiederbekommt. Das ist eine
Verantwortung, die nicht nur bei der Politik abzuladen ist, sondern
die die ganze Gesellschaft und speziell die Wirtschaft angeht. Auch
sie müssen Verantwortung für das Gemeinwesen übernehmen.

Wir werden den Arbeitsmarkt über die Hartz-Reformen hinaus öffnen,
Schwarzarbeit zurückdrängen und unsere Bemühungen verstärken, dass
genügend Ausbildungsplätze bereitgestellt werden. Aber es muss auch
klar sein: Obwohl wir bei der gesetzlichen Umsetzung der
Hartz-Vorschläge zügig gearbeitet haben, wird es durchaus eine Zeit
dauern, bis die entsprechenden Reformen auf dem Arbeitsmarkt greifen.
Einfach die aktive Arbeitsmarktpolitik, vor allem in den ostdeutschen
Bundesländern, zurückzufahren, noch bevor die neuen Strukturen
aufgebaut sind und ihre Wirkung entfalten können - das kann nicht die
Lösung sein und das wird auch nicht die Lösung sein.

Wir werden speziell in Ostdeutschland für eine Übergangszeit noch
einen zweiten Arbeitsmarkt brauchen. Das gilt übrigens nicht nur für
Ostdeutschland, sondern auch für andere besonders benachteiligte
Regionen.

Meine Damen und Herren, wir können es nicht dabei belassen, die
Bedingungen für die Wirtschaft und die Arbeitsmärkte zu verbessern.
Wir müssen auch über das System unserer Hilfen nachdenken und uns
fragen: Sind die sozialen Hilfen wirklich Hilfen für die, die sie
brauchen?

Ich akzeptiere nicht, dass Menschen, die arbeiten wollen und können,
zum Sozialamt gehen müssen, während andere, die dem Arbeitsmarkt
womöglich gar nicht zur Verfügung stehen, Arbeitslosenhilfe beziehen.

Ich akzeptiere auch nicht, dass Menschen, die gleichermaßen bereit
sind zu arbeiten, Hilfen in unterschiedlicher Höhe bekommen. Ich
denke, das kann keine erfolgreiche Integration sein.

Wir brauchen deshalb Zuständigkeiten und Leistungen aus einer Hand.
Damit steigern wir die Chancen derer, die arbeiten können und wollen.
Das ist der Grund, warum wir die Arbeitslosen- und Sozialhilfe
zusammenlegen werden, und zwar einheitlich auf einer Höhe - auch das
gilt es auszusprechen -, die in der Regel dem Niveau der Sozialhilfe
entsprechen wird.

Wir kommen gleichzeitig den Menschen entgegen, denen wir mehr
abverlangen müssen. So werden wir damit Schluss machen, dass
Langzeitarbeitslose, die einen Job annehmen, sämtliche Ansprüche auf
Transferleistungen verlieren. Deswegen werden wir eine bestimmte Zeit
Langzeitarbeitslosen, die eine Beschäftigung aufnehmen, deutlich mehr
als die bisherigen 15 Prozent der Transfers belassen. Das soll und
wird ein Anreiz für die Aufnahme von Arbeit sein.

Ich denke, wir setzen damit ein eindeutiges Signal für diejenigen
Menschen in unserer Gesellschaft, die länger als zwölf Monate
arbeitslos sind. Niemandem aber wird künftig gestattet sein, sich
zulasten der Gemeinschaft zurückzulehnen. Wer zumutbare Arbeit
ablehnt - wir werden die Zumutbarkeitskriterien verändern -, der wird
mit Sanktionen rechnen müssen.

Darüber hinaus reformieren wir das Arbeits- und das Sozialrecht an den
Stellen, an denen sich im Laufe der Jahre Beschäftigungshemmnisse
entwickelt haben. Aber auch hier vorweg eine Bemerkung: Der
Kündigungsschutz, wie er zum Wesen unserer sozialen Marktwirtschaft
gehört, ist nicht nur eine soziale, sondern auch eine ökonomische und
eine kulturelle Errungenschaft.

Unser Land ist nicht durch Gesetze des Dschungels oder durch
bedenkenloses "Hire and Fire", sondern durch selbstbewusste
Arbeitnehmer stark geworden, deren Motivation eben nicht Angst ist,
sondern der Wille, gemeinsam mit tüchtigen Unternehmern etwas zu
leisten.

Wir wissen aber, welche gewaltigen Veränderungen an der ökonomischen
Basis unserer Gesellschaft stattfinden. Wir müssen deshalb auch den
Kündigungsschutz für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie für die
Unternehmen besser handhabbar machen. Das gilt insbesondere für die
Kleinbetriebe mit mehr als fünf Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Für
sie muss und wird die psychologische Schwelle bei Neueinstellungen
überwunden werden. Der Wirtschafts- und Arbeitsminister hat dazu
Vorschläge entwickelt. Diese werden ohne Abstriche umgesetzt werden.

Hier gibt es zwei Möglichkeiten: Man kann das so genannte Puffermodell
nutzen, wonach dann, wenn ein sechster Mitarbeiter eingestellt wird,
wenn also die Grenze von fünf überschritten wird, der erste
Arbeitnehmer quasi in den Kündigungsschutz hineinwächst. Das Problem
ist unter Umständen, dass das schwierig zu kalkulieren ist und dass
Arbeitsgerichte Schwierigkeiten bei der Umsetzung haben. Deswegen hat
der Wirtschafts- und Arbeitsminister ein anderes Modell entwickelt,
das vorsieht, dass die Zahl derjenigen, die befristet eingestellt
werden - Sie kennen die diesbezüglichen Regelungen -, und die Zahl
derjenigen, die als Leih- und Zeitarbeiter eingestellt werden, nicht
auf die Obergrenzen für die Betriebe angerechnet werden. Mein Eindruck
ist, dass dies das wirkungsvollere, das bessere Modell ist. Deswegen
wird es auch umgesetzt werden.

Aber das wird nicht reichen. Man muss das im Zusammenhang sehen.

Darüber hinaus werden wir - Sie sollten das durchaus in Kumulation
sehen - eine wahlweise Abfindungsregelung bei betriebsbedingten
Kündigungen einführen. Im Falle solcher Kündigungen soll der
Arbeitnehmer zwischen der Klage auf Weiterbeschäftigung und einer
gesetzlich definierten und festgelegten Abfindungsregelung wählen
können.

Schließlich werden wir die Sozialauswahl so umgestalten, dass auch in
wirtschaftlich schwierigen Zeiten die Leistungsträger unter den
Beschäftigten im Unternehmen gehalten werden können. Statt der
Sozialauswahl nur nach starren Kriterien wie Alter oder Dauer der
Betriebszugehörigkeit sollen in Zukunft die Prioritäten auch direkt
zwischen Arbeitnehmervertretern und Arbeitgebern erarbeitet und
verbindlich gemacht werden. Das erhöht die Planungssicherheit für die
Betriebe und senkt die Hürde für Neueinstellungen.

Dieses Ziel verfolgen wir auch mit einer weiteren Maßnahme. Für
Existenzgründer werden wir die maximale Befristung von
Arbeitsverhältnissen auf vier Jahre verdoppeln. Existenzgründer werden
zudem in den ersten vier Jahren von den Pflichtbeiträgen an die
Handwerks- und Industrie- und Handelskammern freigestellt.

Abgerundet wird diese Strategie für mehr Beschäftigung durch Maßnahmen
zur Bekämpfung der Schwarzarbeit, die immer noch Zuwachsraten hat, die
uns alle beschämen müssen.

Natürlich ist es ein Gebot der Moral und der Solidarität,
Schwarzarbeit gesellschaftlich zu ächten, es ist aber auch ein Gebot
der gesellschaftlichen und ökonomischen Vernunft. Wir haben bereits
durch die Hartz-Reform legale Beschäftigung attraktiver gemacht.

Für unsere Volkswirtschaft sind Konzerne und Großunternehmen gewiss
wichtig. Aber der Motor des Wachstums ist und bleibt der Mittelstand.

Mittelständische Unternehmen klagen über hohe Lohnnebenkosten und über
bürokratische Vorschriften. Deshalb werden wir kleine Betriebe künftig
deutlich besser stellen. Wir werden das Steuerrecht für
Kleinstbetriebe radikal vereinfachen, die Buchführungspflichten
reduzieren und auch damit die Steuerbelastung kräftig senken. Mit dem
Small Business Act verbessern wir die Startbedingungen in die
Selbstständigkeit.

Wer sich selbstständig macht und damit für sich und andere
Arbeitsplätze schafft, der hat unsere Anerkennung und unsere
politische Unterstützung.

Es darf nicht sein - auch das gilt es klar zu machen -, dass
Unternehmensgründer und viele kleinere Unternehmen inzwischen mehr
Zeit für ihre Bankengespräche aufwenden als für die Entwicklung und
Vermarktung ihrer Produkte.

Wir müssen in diesem Zusammenhang auch deutlich machen, dass
ungeachtet von Schwierigkeiten gerade im Finanzierungssektor -
Schwierigkeiten übrigens, die auch durch Managementfehler in diesem
Bereich entstanden sind und nicht durch die Politik - die in diesem
Markt tätigen Institute ihre eigentliche Aufgabe, nämlich nicht
zuletzt die mittelständische Wirtschaft mit Finanzierungsmöglichkeiten
zu versorgen, besser wahrnehmen müssen, als das in der letzten Zeit
der Fall gewesen ist.

Die Bundesregierung, die staatlichen Institutionen können nicht an die
Stelle der privaten Finanzierungsinstitute treten. Sie können nur
ergänzend tätig werden. Deshalb haben wir mit dem Programm "Kapital
für Arbeit" und den so genannten Nachrangdarlehen, die bei der
Bewertung der Kreditwürdigkeit wie Eigenkapital behandelt werden
können, die Kreditbedingungen für die Unternehmen verbessert. Aber die
langfristigen Refinanzierungsmöglichkeiten müssen durch die privaten
Institutionen dargestellt werden.

Es wäre ein Fehler, davon auszugehen, dass Entbürokratisierung und
mehr Flexibilität immer nur von der einen Seite der Gesellschaft
eingefordert werden könnten und werden dürften. Nein, wir müssen auch
das Handwerksrecht modernisieren und so verschlanken, damit es im
Handwerk wieder mehr Existenzgründungen gibt,mehr Arbeitsplätze
entstehen und die, die es gibt, etwa durch erleichterte
Betriebsübernahmen besser gesichert werden können, als das in der
Vergangenheit der Fall war.

Ich will in diesem Zusammenhang drei mir besonders wichtige Punkte
ansprechen:

Erstens. In den Bereichen, wo es auf das Qualitätssiegel des
Meisterbriefes besonders ankommt, soll und muss er auch künftig
erhalten bleiben. Das sind alle Bereiche, in denen eine unsachgemäße
Ausübung Gefahren für die Gesundheit oder das Leben anderer
verursachen könnte. Ich weiß, dass das schwer abzugrenzen sein wird;
aber es ist notwendig, auf diesem Gebiet endlich zu Veränderungen zu
kommen.

Zweitens. Tüchtigen und erfahrenen Gesellen wollen wir künftig den
Aufbau einer selbstständigen Existenz erleichtern.
Nach zehn Jahren Berufstätigkeit sollen sie einen Rechtsanspruch auf
die selbstständige Ausübung ihres Handwerks erhalten.

Drittens. Zwar nicht innerhalb einer GmbH, aber als selbstständiger
Einzelunternehmer braucht der Chef eines Handwerksbetriebs einen
Meisterbrief. Künftig wird es ausreichen, wenn er einen Meister in
seinem Handwerksbetrieb beschäftigt. Auch das schafft mehr
Flexibilität und erleichtert Firmenübernahmen, was dringend notwendig
ist.

Ich habe Ihnen klar gesagt, wo es geht und wo es bisher nicht geht: In
einer GmbH hat man bisher keine Probleme. Da gilt das, was ich gesagt
habe. In einem Einzelunternehmen gilt das bisher nicht.

Also werden wir das auch für die Einzelunternehmen möglich machen,
weil das sinnvoll ist, und so geschieht es auch.

Arbeitsrecht und Tarifverträge ergänzen sich in Deutschland zu einem
dichten Netz geregelter Arbeitsbeziehungen. Das schafft Sicherheit.
Aber es ist häufig nicht so flexibel und ausdifferenziert, wie es in
einer komplexen Volkswirtschaft im internationalen Wettbewerb sein
muss. Die Verantwortlichen - Gesetzgeber wie Tarifpartner - müssen in
Anbetracht der wirtschaftlichen Situation und der Arbeitsmarktlage
ihre Gestaltungsspielräume nutzen, um Neueinstellungen zu erleichtern.
Dazu ist es unabdingbar, dass in den Tarifverträgen Optionen
geschaffen werden, die den Betriebspartnern Spielräume bieten,
Beschäftigung zu fördern und zu sichern.

Übrigens, in der Praxis gibt es - auch das gilt es einmal klar zu
machen - eine Vielzahl erfolgreicher Beispiele für solche
Öffnungsklauseln auf dem Boden des geltenden Tarifvertragsrechtes.
Diese Erfolge sollte man nicht kleinschreiben.

Diese Erfolge haben Arbeits- und Ausbildungsplätze geschaffen und die
Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe verbessert.

Dabei ist klar, dass Betriebsvereinbarungen zu Standort- und
Arbeitsplatzsicherung, die auf der Grundlage von Öffnungsklauseln
getroffen werden, dem Vorbehalt der Zustimmung durch die
Tarifvertragsparteien unterliegen.

Es muss aber auch klar sein, dass uns dogmatische Unbeweglichkeit
ebenso wenig voranbringt wie aggressive Angriffe auf das Tarifsystem.

In den Tarifverträgen muss durch geeignete Regelungen ein entsprechend
flexibler Rahmen geschaffen werden. Das ist die Herausforderung für
die Tarifpartner und es ist auch ihre Verantwortung. Art. 9 des
Grundgesetzes gibt der Tarifautonomie Verfassungsrang. Aber das ist
nicht nur ein Recht, sondern auch eine Verpflichtung; denn Art. 9
verpflichtet die Tarifparteien zugleich, Verantwortung für Wirtschaft
und Gesellschaft insgesamt zu übernehmen. Hier kann und darf niemand
Einzelinteressen über die gesamtgesellschaftliche Entwicklung stellen.

Ich erwarte also, dass sich die Tarifparteien entlang dessen, was es
bereits gibt -, aber in weit größerem Umfang -, auf betriebliche
Bündnisse einigen, wie das in vielen Branchen bereits der Fall ist.
Geschieht das nicht, wird der Gesetzgeber zu handeln haben.

Ich möchte zum Thema Arbeitsmarkt unmissverständlich klarstellen: Wir
werden das Recht auf Mitbestimmung nicht antasten und wir werden auch
die Flächentarifverträge nicht abschaffen. Der Flächentarifvertrag
schafft, wenn er flexibel gehandhabt wird, gleiche
Konkurrenzbedingungen in einer Branche. Er gibt den Betrieben und den
Arbeitnehmern Planungssicherheit und zwingt zur beständigen Steigerung
der Produktivität.

Mir ist noch etwas wichtig - auch das gehört in eine solche Debatte -:
Ohne mutige und verantwortungsbewusste Betriebsräte - das gilt es zu
unterstreichen - würden heute viele Betriebe nicht mehr existieren,
meine Damen und Herren.

Gerade in schwierigen Zeiten sind es doch Betriebsräte und auch
Gewerkschaften, die ihren Beitrag dazu leisten, dass Betriebe weiter
arbeiten können. Natürlich müssen sich die Gewerkschaften bewegen und
erneuern. Aber - auch das gilt es in einer solchen Debatte einmal klar
zu machen - sie haben so viel für Wohlstand und soziale Sicherheit
geleistet, dass die Beleidigungen, die man gelegentlich aus den Reihen
von CDU/CSU und FDP hört, eine geschichtslose Unverschämtheit sind.

Vielleicht sollte man in diesem Zusammenhang in eine bestimmte
Richtung des Hauses noch einmal daran erinnern, dass die weitaus
größte Zahl unternehmerischer Misserfolge nicht die Gewerkschaften und
nicht die Betriebsräte zu verantworten haben, sondern dass sie auch
auf krasse kaufmännische und strategische Fehler im Management
zurückgehen. Diese Fehler werden dann oft genug noch mit
millionenschweren Abfindungen vergütet.

So wichtig es auf der einen Seite ist, Flexibilität zu fordern, so
wichtig ist es auf der anderen Seite, deutlich zu machen, dass sich
auch in der bundesdeutschen Unternehmenskultur etwas bewegen und
verändern muss. Auch dafür wird zu sorgen sein.

Wir haben gemeinsam mit den Arbeitgeberverbänden und den Kammern für
den Erhalt des dualen Ausbildungssystems gestritten - übrigens ein
Ausbildungssystem, um das uns noch immer viele Länder der Welt
beneiden.

Die Bundesregierung hat, wie die Länder und die Kommunen im Übrigen
auch, mit diversen Förderprogrammen dafür gesorgt, dass junge Menschen
eine Chance auf Ausbildung und Arbeit bekommen. Wir waren uns mit den
Verbänden der Wirtschaft einig, dass die Verantwortung dafür, dass
jede und jeder am Anfang ihres oder seines Berufslebens nicht in
Arbeitslosigkeit fällt, nicht allein bei der Politik abgeladen werden
kann, sondern dass diese Verantwortung auch bei den Betrieben liegt.

Aber inzwischen fehlen schon wieder rund 110 000 betriebliche
Ausbildungsplätze - Ausbildungsplätze, die nicht von der Politik
geschaffen werden können. 30 Prozent aller Unternehmen bilden aus,
viele davon über Bedarf, und ich bin dankbar dafür.

Aber 70 Prozent der Unternehmen entziehen sich ihrer sozialen und
übrigens auch ökonomischen Verantwortung. Sie sägen damit an dem Ast,
auf dem sie selber sitzen.

Es gehört zum Kernbestand der sozialen Marktwirtschaft, dass sich die
unternehmerische Verantwortung nicht nur auf ein gutes Jahresergebnis
erstreckt. Unternehmer und Unternehmen tragen auch gesellschaftliche
Verantwortung. Diese Verantwortung zeigt sich zunächst und vor allem
im Engagement für diejenigen, die am Anfang ihres Berufslebens stehen.
Das ist ein zentrales Gebot der Wirtschaftsethik, aber auch der
blanken Nützlichkeit für unsere Gesellschaft.

Der Wirtschaft kann nicht erlaubt werden, sich zurückzuziehen, sondern
sie muss zu der getroffenen Verabredung zurückkehren.

Diese lautet: Jeder, der einen Ausbildungsplatz sucht und
ausbildungsfähig ist, muss einen Ausbildungsplatz bekommen! Davon
können wir nicht abweichen.

Ebenso wie ich die Forderung an die Tarifparteien gerichtet habe,
Öffnungsklauseln zu schaffen, damit betriebliche Bündnisse entstehen
können, muss ich die Forderung an die Wirtschaft richten, die gegebene
Zusage einzuhalten. Wenn nicht, werden wir auch in diesem Bereich zu
einer gesetzlichen Regelung kommen müssen.

Jeder weiß, ich bin kein Freund der Ausbildungsabgabe. Aber ohne eine
nachhaltige Verbesserung der Ausbildungsbereitschaft und ohne die
Übernahme der zugesagten Verantwortung für diesen Bereich ist die
Bundesregierung zum Handeln verpflichtet und sie wird das auch tun.

Dazu gehört aber auch: Wer bereit ist auszubilden, dem darf das nicht
deshalb versagt werden, weil er bestimmte formale Voraussetzungen
nicht erfüllt.

Deshalb werden wir die entsprechenden Regelungen so umgestalten, dass
jeder, der einen Betrieb mindestens fünf Jahre lang erfolgreich
geführt hat, auch ausbilden darf.

Genauso klar muss sein: Junge Menschen haben ein Recht auf neue
Chancen, auf Ausbildung und dieses Recht muss ihnen die Gesellschaft
gewähren. Diesem Recht - das muss genauso klar festgestellt werden -
entspricht allerdings die Pflicht, zumutbare Angebote auch anzunehmen.
Geschieht das nicht, wird das zu Sanktionen führen müssen. Wir werden
dafür sorgen, dass das funktioniert.

Solidarität, der Schutz der Schwächeren und die Absicherung gegen
Lebensrisiken sind nicht nur ein Verfassungsauftrag. Sie sind nach
meiner festen Überzeugung das Fundament unserer Gesellschaftsordnung.

Nicht erst seit den letzten Wochen erleben wir eine ganz und gar
unsinnige Debatte, in der so getan wird, als stünden wir vor der
Alternative, den Sozialstaat abzuschaffen oder so zu erhalten, wie er
ist. Wer angesichts radikal veränderter Bedingungen der ökonomischen
Basis unserer Gesellschaft die Frage so stellt, der hat bereits
verloren.

Es liegt doch auf der Hand, dass eine Gesellschaft wie die unsere eine
wirklich gute Zukunft nur als Sozialstaat haben kann. Anders als in
einem Sozialstaat lässt sich Zusammenarbeit in komplexen Ordnungen, in
einer Gesellschaft, in der sich der Altersaufbau, die Art und Dauer
der Arbeitsverhältnisse, aber auch die kulturellen Gegebenheiten
dramatisch verändern, gar nicht organisieren. Aber wir müssen aufhören
- das ist der Kern dessen, was wir vorschlagen -, die Kosten von
Sozialleistungen, die der Gesellschaft insgesamt zugute kommen, immer
nur und immer wieder dem Faktor Arbeit aufzubürden.

Gewiss: Wir werden erhebliche Einsparungen durch Umstrukturierungen im
System und durch Abbau von Bürokratie erreichen. Aber es wird
unausweichlich nötig sein, Ansprüche und Leistungen zu streichen,
Ansprüche und Leistungen die schon heute die Jüngeren über Gebühr
belasten und unserem Land Zukunftschancen verbauen.

Die Menschen in den Betrieben und Büros erwarten, dass wir die
Belastung durch Steuern und Abgaben senken. Ich betone noch einmal:
Mit den Stufen 2004 und 2005 werden wir das tun. Durch unsere
Maßnahmen zur Erneuerung der sozialen Sicherungssysteme senken wir die
Lohnnebenkosten. Das ist gewiss nicht immer einfach und die Maßnahme,
die wir zusätzlich durchführen müssen, ist es erst recht nicht. Wir
werden das Arbeitslosengeld für die unter 55-Jährigen auf zwölf und
für die über 55-Jährigen auf 18 Monate begrenzen, weil dies notwendig
ist, um die Lohnnebenkosten im Griff zu behalten. Es ist auch deswegen
notwendig, um vor dem Hintergrund einer veränderten
Vermittlungssituation Arbeitsanreize zu geben.

Natürlich gibt es darüber keine Begeisterung. Das kann doch gar nicht
anders sein und das habe ich überhaupt nicht anders erwartet. Es gibt
gelegentlich Maßnahmen, die ergriffen werden müssen und die keine
Begeisterung auslösen, übrigens auch bei mir nicht. Trotzdem müssen
sie sein. Deswegen werden wir sie auch umsetzen.

Um auf die Rente zurückzukommen: Die Reform der Rentenversicherung im
Jahr 2001 war sicherlich eine der wichtigsten rentenpolitischen
Entscheidungen seit der Einführung der dynamischen Rente 1957. Weil
darüber so viel und so viel Unsinniges verbreitet worden ist, will ich
sagen: Bis Ende vergangenen Jahres wurden im Bereich der individuellen
Altersvorsorge 3,4 Millionen Verträge abgeschlossen; bei der
betrieblichen Altersvorsorge waren es etwa 2 Millionen. Das sind,
bezogen auf die 35 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in
unserem Land, immerhin 15 Prozent.

Das ist nicht genug - keine Frage. Aber nach einem Jahr ist das eine
ganze Menge.

Wir müssen uns endlich einmal entscheiden, ob wir einer Reformmaßnahme
in einem schwierigen Umfeld, in einem häufig rechtlich und auch
politisch sehr vermachteten Umfeld Zeit geben wollen, ihre Wirkung zu
entfalten, oder ob wir uns nur dranmachen wollen, jeden Ansatz von
Reformen gleich wieder zu zerreden, weil er dem einen zu weit und dem
anderen nicht weit genug geht.

Gleichwohl gilt, bezogen auf dieses System, dass wir in unseren
Annahmen zu pessimistisch und zu optimistisch zugleich waren: zu
optimistisch, was die Beschäftigungsentwicklung anging, und zu
pessimistisch im Bezug auf die durchschnittliche Lebenserwartung, die
glücklicherweise - aber mit Problemen für die Altersvorsorge - immer
größer wird. Aus diesen beiden Gründen ist es nötig, bei der
Rentenversicherung nachzujustieren. Dabei muss der Grundsatz
beibehalten werden, dass die Renten für die alten Menschen so sicher
wie nur irgendwie möglich gemacht werden und die Beiträge bezahlbar
bleiben. Das heißt auch, dass wir noch in diesem Jahr von Herrn Rürup
ergänzende Vorschläge erwarten, wie die Rentenformel angesichts dieser
Veränderungen neu zu fassen und entsprechend anzupassen ist.

Ich denke, wir sind uns klar darüber, dass alle, aber auch wirklich
alle in der Gesellschaft einen Beitrag leisten müssen. Es betrifft
natürlich die Mitglieder der Bundesregierung und auch andere. Deshalb
wird es - kein Zweifel - auch für die Gehälter der Bundesminister und
der Staatssekretäre eine erneute Nullrunde geben.

Ich denke, es ist selbstverständlich, dass das politische Personal von
Einschnitten nicht verschont bleiben kann.

Noch einen Aspekt: Wie ich höre, haben sich die Länder darauf
verständigt, dass auch die Beamten einen Beitrag zur Erneuerung des
Sozialstaates und zur Konsolidierung der Länderhaushalte leisten
sollen und leisten werden. Der Bund, der hier die Gesetzgebungsarbeit
zu machen hat, ist durchaus bereit, auf die Vorschläge, die die Länder
untereinander offenbar vereinbart haben, positiv einzugehen. Denn klar
ist: Auch aus diesem Bereich heraus muss es Solidarität geben.

Es gibt kaum einen Bereich der Politik, den die Menschen mit so hohen
Erwartungen, aber auch mit so großen Sorgen betrachten wie die
Reformen des Gesundheitswesens. In der Tat, die Reform der
gesetzlichen Krankenversicherung ist der wichtigste, auch notwendigste
Teil der innenpolitischen Erneuerung, weil wir nur mit einer Reform
das hohe Niveau der medizinischen Versorgung für die Zukunft werden
sichern können. Kein Zweifel: Unser heutiges System der gesetzlichen
Krankenversicherung mit mehr als 70 Millionen Mitgliedern ist immer
noch enorm leistungsfähig. Qualität und Standards im deutschen
Gesundheitswesen sind im internationalen Vergleich immer noch
vorbildlich.

Aber Krisenzeichen auch in diesem System sind unübersehbar. Einnahmen
und Ausgaben der Krankenkassen entwickeln sich weiter auseinander. Vor
allem gilt: Die Strategie der Kostendämpfung ist eindeutig an ihre
Grenzen gestoßen. Dabei werden 20 Prozent der Kosten durch Über- und
Fehlversorgung verursacht. Jeder kennt das und jeder hat Beispiele vor
Augen. Wir werden deshalb Änderungen im Interesse der Patienten
durchsetzen, auch und gerade weil das deutsche Gesundheitssystem
verkrustet und in einer Weise vermachtet ist wie kaum ein anderes
gesellschaftliches System.

Ich hoffe sehr, dass wir in diesem Hohen Haus Einigkeit erzielen
können: Das Gefühl einer gemeinsamen Verantwortung im
Gesundheitssystem ist nahezu verschwunden. Viele agieren nach dem
Grundsatz des raschen, auch des bedenkenlosen Zugriffs. Eine
Mentalität der Selbstbedienung hat das Gefühl der Solidarität
verdrängt. Deshalb sage ich: Hier ist auch in den Haltungen aller
Akteure ein Umdenken notwendig. Wir haben Einnahmeverluste aufgrund
hoher Arbeitslosigkeit; der medizinische Fortschritt, der an sich
erfreulich ist, wird die Kosten im Gesundheitssektor weiter nach oben
treiben. Zudem steigt die Zahl der älteren Mitbürgerinnen und
Mitbürger weiter an, die im Durchschnitt weniger einzahlen - das kann
auch nicht anders sein -, aber weitaus mehr Leistungen in Anspruch
nehmen.

Anderen Gesellschaften ging oder geht es ganz ähnlich. Dabei zeigt
sich die Alternative: Entweder wir lassen die Entwicklung treiben -
dann bleibt nur die Einschränkung medizinischer Leistungen oder eine
vom Alter abhängige Zuteilung von medizinischer Versorgung - oder wir
entschließen uns zu Reformen, die das hohe Gut Gesundheit für alle
finanzierbar halten. Der erste Weg ist nicht der Weg, den wir gehen
wollen.

Für uns bleibt es beim Grundsatz: Jede und jeder erhalten die
notwendige medizinische Versorgung, und zwar unabhängig von Alter und
Einkommen.

Das erwarten die Menschen von uns. Sie erwarten auch, dass wir am
Solidarprinzip in der Krankenversicherung prinzipiell festhalten.

Zur Erneuerung des Gesundheitswesens brauchen wir aber einschneidende
Kurskorrekturen. Ein Teil der notwendigen Maßnahmen wird im
zuständigen Ministerium vorbereitet. Zum Finanzierungsteil wird die
Rürup-Kommission bis Mai ihre Vorschläge vorlegen.

Ein paar wesentliche Punkte sind schon jetzt zu nennen. Erfolg werden
wir nur haben, wenn zwei Ziele unstrittig sind: hohe Qualität der
Gesundheitsversorgung und kostenbewusstes Verhalten von Ärzten,
Krankenkassen, Kliniken, Apothekern, Pharmaunternehmen, aber auch der
Versicherten.

Der Staat muss dabei helfen, den Abbau von Verkrustungen zu
ermöglichen. Er muss mehr Wettbewerb im System zulassen und fördern
und kostentreibende Monopolstrukturen beseitigen.

Hierzu gehört auch das Vertragsmonopol der Kassenärztlichen
Vereinigungen.

Dieses Vertragsmonopol hat sich überlebt. Wir werden es den
Krankenkassen deshalb ermöglichen, Einzelverträge mit den Ärzten
abzuschließen.

Auf der anderen Seite hat ein System mit 350 unterschiedlichen
Krankenkassen ebenfalls Modernisierungsbedarf.

Klar gesagt: So viele Krankenkassen werden es nicht bleiben können.
Wir werden hier auf die Schaffung überschaubarer und leistungsfähiger
Strukturen dringen.

Qualitätssicherung wird die zweite große Ressource sein, die wir
ausschöpfen werden. Die Sicherung von Qualität gehört zu den
Schlüsselaspekten einer wirklichen Reform der gesetzlichen
Krankenversicherung. Wir brauchen klare Standards; diese werden wir
schaffen. Darüber hinaus werden wir - das ist für viele schmerzlich -
den Leistungskatalog überarbeiten und Leistungen streichen. Wir müssen
neu bestimmen, was künftig zum Kernbereich der gesetzlichen
Krankenversicherung gehört und was nicht.

Es gibt Vorschläge, den Zahnersatz oder gar die Zahnbehandlung nicht
mehr von den Krankenkassen zahlen zu lassen. Ich halte das nicht für
richtig.

Wir haben ein System, das Eigenvorsorge bei der Zahnpflege belohnt.
Das soll so bleiben. Ich möchte nicht, dass man den sozialen Status
der Menschen wieder an ihren Zähnen ablesen kann.

Ich habe mich lange mit einer Forderung auseinander gesetzt, die von
vielen Seiten erhoben worden ist, nämlich der Forderung, private
Unfälle aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung
herauszunehmen. Dies ist eine Forderung, die wirklich eine ernsthafte
Debatte lohnt. Ich zweifle aber daran, ob diese Forderung umgesetzt
werden sollte, weil es fraglich ist, ob eine trennscharfe Abgrenzung
zwischen krankheits- und unfallbedingten Leiden überhaupt möglich ist.

Ich zweifle auch daran, ob die an sich wohlfeile Forderung,
Extremsportarten aus dem Leistungskatalog herauszunehmen, viel bringt.
Zudem ist auch hier fraglich, ob Abgrenzungen möglich sind.  Mir ist
beispielsweise nicht einsichtig, warum Sportunfälle insgesamt einer
besonderen Versicherungspflicht unterworfen werden sollten. Damit
würden wir vor allem den Breitensport treffen, einen Bereich, der zur
Gesundheitsförderung und zur Krankheitsprävention beiträgt. Er ist
zudem gerade für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sehr
wichtig.

Anders beurteile ich die Frage der privaten Vorsorge im Hinblick auf
das Krankengeld. Hier handelt es sich um einen klar abgrenzbaren
Kostenblock, der auch für die Zukunft überschaubar bleibt. Die
Kostenbelastung für den Einzelnen durch eine private Versicherung
bliebe beherrschbar. Medizinisch notwendige Leistungen würden nicht
berührt.

Außerdem werden wir das tun müssen, was wir im Rahmen der
Rentenstrukturreform vorgemacht haben: die Befreiung der gesetzlichen
Krankenversicherung von einer Reihe so genannter versicherungsfremder
Leistungen.

Dazu gehört zum Beispiel das Mutterschaftsgeld, das aus dem
allgemeinen Steueraufkommen finanziert werden muss.

Wir brauchen, glaube ich, auch ein neues Nachdenken - das will ich
hier sehr deutlich sagen - über die öffentliche Debatte über
Zuzahlungen und Selbstbehalte. Formen von Eigenbeteiligungen sind im
geltenden System lange bekannt. Sie haben Steuerungswirkung. Sie
halten Versicherte zu kostenbewusstem Verhalten an.

Ich sage das doch, weil wir in diesem Bereich ohnehin nur
weiterkommen, wenn die Mehrheit dieses Hauses und die Mehrheit des
Bundesrats entschlossen sind, eine durchgreifende Reform auch
durchzusetzen; sonst geht es ja nicht.

Weil das so ist und weil ich weiß, dass Sie ganz bestimmte - für Sie
elementare - Forderungen aufgestellt haben, macht es doch aus meiner
Sicht - ich will eine solche Reform - keinen Sinn, so zu tun, als
seien die für alle Zeiten indiskutabel. Das brächte doch niemanden
weiter. Weil ich weiterkommen will, werde ich die Punkte, die für Sie
existenziell sind, zumindest in die Diskussion einbeziehen müssen; das
kann doch nur vernünftig sein. Wenn Sie sagen, das sei eine
Veränderung in der einen oder anderen Position, dann gebe ich Ihnen
Recht. Ich stehe doch hier, weil es Veränderungen geben muss, weil das
die angemessene Reaktion auf veränderte Zustände in unserer
Gesellschaft ist.

Gerade weil Eigenverantwortung gestärkt werden muss, sollten wir - ich
komme jetzt zu den Instrumenten - Instrumente wie differenzierte
Praxisgebühren und Selbstbehalte nutzen. Menschen mit geringem
Einkommen, Kinder, auch chronisch Kranke - auch darüber sind wir uns,
glaube ich, einig - müssen davon ausgenommen werden.

Durchsetzen muss sich schließlich die Erkenntnis, dass sich
Gesundheitspolitik nicht auf die Heilung von Krankheiten beschränken
darf, sondern dass der Prävention Vorrang eingeräumt werden muss.

Wir sollten uns dabei am Vorbild der skandinavischen Länder
orientieren, die durch systematische Förderung gesundheitsbewussten
Verhaltens wichtige Beiträge zur Kostensenkung im Gesundheitswesen
erzielt haben.

Nicht ansatzweise ausgeschöpft scheinen mir auch die Reserven zu sein,
die in einer Modernisierung der Kommunikationstechnologie in diesem
Bereich liegen.

Der elektronische Patientenausweis und die elektronische Krankenakte
sind nicht nur technologisch anspruchsvolle Projekte, die wir bis
spätestens 2006 funktionsfähig haben wollen; sie werden auch dazu
beitragen, kostenaufwendige Doppel- und Mehrfachversorgung zu
vermeiden und auf diese Weise die Qualität von Behandlungen zu
erhöhen.

Meine Damen und Herren, Sie verstehen, dass ich mit bezifferten
Prognosen vorsichtig bin.

Durch die Umsetzung der vorgeschlagenen ordnungs- und
strukturpolitischen Maßnahmen können wir es schaffen, die Beiträge zur
Krankenversicherung unter 13 Prozent zu drücken.

Ich habe das, was ich "Agenda 2010" genannt habe, vorgestellt. Ich
habe beschrieben, was wir leisten müssen, um unsere Schwierigkeiten zu
überwinden - Schritt für Schritt, gar keine Frage, aber wir müssen das
anpacken - und Deutschlands Stärke neu zu entwickeln. Unser Land hat -
daran kann doch kein Zweifel bestehen - große Potenziale, Potenziale,
die wir durch eine gemeinschaftliche Anstrengung wecken können und
wecken müssen.

Wir verlangen der Gesellschaft heute etwas ab, aber wir tun es, damit
den Menschen neue Chancen eingeräumt werden, Chancen, ihre Fähigkeiten
zu entwickeln und Höchstleistungen zu erbringen.

Diese Chancen wollen wir uns erarbeiten. Das heißt zuerst: Chancen für
Bildung und Investitionen in Forschung und Entwicklung.

Andere Länder haben uns vorgemacht, dass weitreichende
Strukturreformen mit verstärkten Investitionen in Bildung und
Forschung einhergehen müssen, wenn man dauerhaft Erfolg haben will.
Aber Folgendes gilt es miteinander zu überwinden: In keinem
vergleichbaren Industrieland entscheidet die soziale Herkunft in so
hohem Maße über die Bildungschancen wie in Deutschland. Das darf nicht
so bleiben.

Es darf nicht so bleiben, dass in Deutschland die Chance des
Gymnasialbesuchs für einen Jugendlichen aus der Oberschicht sechs- bis
zehnmal so hoch ist wie für einen Jugendlichen aus einem
Arbeiterhaushalt.

Meine Damen und Herren, es ist ein Skandal, dass jeder vierte
ausländische Schüler ohne Schulabschluss bleibt. Auch das müssen wir
im Interesse der jungen Menschen, aber auch im Interesse der Kohäsion
unserer Gesellschaft ändern.

Wir sollten bei allem Respekt vor den unterschiedlichen Kompetenzen,
die ich kenne und respektiere, zu einer nationalen Gesamtanstrengung
kommen, um Standards zu setzen und die Defizite, die ich beschrieben
habe, zu überwinden. Wir brauchen das Angebot einer Ganztagsbetreuung
- anders wird es nicht zu machen sein -, die die pädagogischen Chancen
dieser Schulform wirklich nutzt. Wir brauchen - nicht zuletzt aus
ökonomischen Gründen - ein neues Interesse an
naturwissenschaftlich-mathematischen Fächern.

Es macht Sinn, wenn sich die Bundesregierung und die
Ministerpräsidenten der Länder auf eine gemeinsame Strategie in diesem
Bereich verständigen und sie dann gemeinsam - jeder in seinem Bereich
- materiell unterlegen.

Wir werden unser Wohlstandsniveau nur dann halten können, wenn wir in
dieser schwierigen wirtschaftlichen Situation verstärkt in Bildung und
Forschung investieren.

Das war der Grund dafür, warum in der vergangenen Legislaturperiode in
der Forschungspolitik umgesteuert und der Etat dieses Ministeriums um
25 Prozent erhöht wurde. Ich weiß, in diesem Jahr haben wir aus
Gründen der Konsolidierung und der Schwierigkeiten, die Sie alle
kennen, kürzer treten müssen. Aber das darf nicht so bleiben. Wir
werden und müssen die Haushalte der großen Forschungsinstitutionen in
den nächsten Jahren jährlich wieder um 3 Prozent erhöhen.

Es ist klar geworden, dass uns die Ereignisse der vergangenen
anderthalb Jahrzehnte dazu gezwungen haben, unseren Blick auf uns
selbst und auf die sich verändernde Welt zu richten. Aber das reicht
nicht mehr. Heute ist es für unser Land erforderlich, Strukturen zu
verändern.

Wir haben die Pflicht, den nachfolgenden Generationen die Chancen auf
ein gutes Leben in einer friedlichen und gerechten Welt nicht durch
Unbeweglichkeit zu verbauen. Das ist der Grund dafür, dass wir den Mut
zu Veränderungen brauchen.

Unser Land muss wieder zu einem Zentrum der Zuversicht in Europa
werden - unsertwegen, aber auch Europas wegen.

Ich kann mir vorstellen, dass es in Verbänden und anderswo viele
Neunmalkluge gibt, die bereits unterwegs sind, um neue Forderungen zu
stellen, noch ehe die bereits erfüllten Forderungen wirklich umgesetzt
worden sind. Ihnen allen sage ich: Nicht alle Probleme, vor denen wir
heute stehen, sind erst gestern entstanden. Nicht alle Lösungen, über
die wir heute diskutieren, können schon morgen wirken. Aber ich bin
entschlossen, nicht mehr zuzulassen, dass Probleme auf die lange Bank
geschoben werden, weil sie kaum überwindbar erscheinen.

Meine Damen und Herren, ich will nicht hinnehmen, dass Lösungen an
Einzelinteressen scheitern, weil die Kraft zur Gemeinsamkeit nicht
vorhanden ist.

Wir Deutsche können stolz sein auf die Kraft unserer Wirtschaft, auf
die Leistungen unserer Menschen, auf die Stärke unserer Nation wie
auch auf die sozialen Traditionen unseres Landes.

Wir haben alles, um eine gute Zukunft für unsere Kinder zu schaffen.
Wenn alle mitmachen und alle zusammenstehen, dann werden wir dieses
Ziel erreichen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.



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