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www.rhetorik.ch aktuell: (28. Oktober, 2003)

Bundesratskrimi



Bundeshaus Am 10. Dezember 2003 steht eine spannende Bundesratswahl bevor. Die SVP verlangt Anspruch auf den FDP Sitz des zurücktretenden Bundesrates Villiger. Die Situation wird im Moment noch durch ein Spionagegeplänkel spannend. Die Geschichte beleuchtet Kommunikationsprobleme und Rivalitäten im Bundesratskollegium und provoziert auch Spekulationen über mögliche Sesselrücken im Bundesrat.

Fortsetzung.


Offiziell hatte die Türkei offiziell die Ausladung von Calmy-Rey vorerst damit begründet, dass das Waadtländer Kantonsparlament den türkischen Völkermord von 1915 an den Armeniern anerkannt hatte.
Laut "Tages-Anzeiger" ist diese Begründung jedoch vorgeschoben: Der Grund der Ausladung seien Kontakte Calmy-Reys mit verbotenen Kurdenorganisationen. Unter anderem habe sie sich mit einem Kurdenführer in Lausanne getroffen.
Stimmen die Angaben des "Tagi", dann wurde die von der Türkei angeschwärzte Calmy-Rey sehr spät mit den Vorwürfen konfrontiert. Zuerst erfuhr ihre Bundesratkollegin Ruth Metzer von den türkischen Aktivitäten. Diese leitete diese Information unverzüglich an Bundespräsident Pascal Couchepin weiter.
Calmy-Rey konnte erst an der Sondersitzung des Bundesrates am 3. Oktober zu den Vorwürfen Stellung nehmen: Sie sei zwar bei einer Veranstaltung in Lausanne angesprochen worden, doch habe sie den Kurden sofort weiter verwiesen.


Im Sonntagblick vom 26. Oktober wird Bundesrat Couchepin und und Bundesrätin Metzler vorgeworfen, sie hätten mit Hilfe des türkischen Geheimdienstes die Kollegin Calmy-Rey ausschalten wollen. Es war von einem "Schmierenstück" die Rede. Im Hauptteil der Sonntagsblickbeiträge wird die Aussenministerin gelobt.
Ruth Metzler nimmt in der Öffentlichkeit vorerst keine Stellung zu diesen Vorwürfen. Falls die Intrigengeschichte zutrifft, wäre das Schweigen der Justizministerin kontraproduktiv. (Am 28. Oktober weist sie Kritik an ihrem Vorgehen zurück.) Nach dem Debakel der CVP liegt es in der Luft, dass Bundesrätin Metzler oder Bundesrat Joseph Deiss den Sitz zugunsten der SVP räumen müsste. Deiss nutzt die Krisensituation mit einer geschickten Wirtschaftsoffensive.
Pascal Couchepin führt nach wie vor das Szepter im Bundesrat. Die Auseinandersetzung mit Micheline Calmy-Rey könnte ihm ebenfalls geschadet haben.


Der Zeitpunkt von Villigers Rücktritt ist für die FDP äusserst ungünstig. Nach den schlechten Wahlresultaten könnte die FDP ihren Sitz verlieren. Doch kann damit gerechnet werden, dass die FDP ihren Kandidaten oder ihre Kandidatin durchbringt. Auch die Frage, ob die CVP Platz machen muss, ist heute noch offen.


Moritz Leuenberger hielt sich bis anhin geschickt aus allen Bundesratspielen heraus.
Samuel Schmid müsste eigentlich bei der Nichtwahl Blochers abtreten, denn dann würde die SVP in die Opposition gehen. Doch hielt er sich alle Wege offen. Schmid hat Übung im Ausstehen von Drucksituationen.
  • Phillipp Stähelin wirkt zur Zeit ziemlich ratlos, nachdem auch die FDP zu einem zweiten SVP Sitz stehen und die CVP Vertreter nicht gewillt sind, Platz zu machen.
  • Auch Christiane Langenegger steckt in einem Dilemma. Sie ist auf die SVP angewiesen, um ihren FDP Sitz zu sichern. Die CVP wendet sich als Partner ab.
  • Christiane Brunner spielt ein wichtige Rolle. Sie könnte Blocher zur Wahl verhelfen aber auch mit einem Support mit der CVP die SVP in die Opposition zwingen und zusammen mit den Grünen eine Mitte-links-Regierung erwirken.
  • Die Grünen widersetzen sich vehement gegen einen Bundesrat mit Blocher.
Das Gerangel um die SVP Sitze ist bereits im Gange. Der SVP scheint es ernst zu sein. Sie erheben Anrecht auf einen zweiten Sitz und würden in die Opposition gehen, wenn die Vorschläge nicht akzeptiert werden.
Die Bundesratswahl wird spannend werden und bestimmt auch medienrhetorisch noch viel hergeben. Auch die Geheimdienst-Intrige wird noch genau abgeklärt werden müssen.


Nachtrag vom 29. Oktober: Gegenseitige Schuldzuweisungen

Nach Tagesanzeiger hatte der DAP die Geheimdienstinformation ungeprüft an Departementschefin Ruth Metzler weitergeleitet. Diese wiederum informierte Bundespräsident Pascal Couchepin, der am 3. Oktober eine Sondersitzung des Bundesrates einberief. Obwohl beide am Vortag mit Calmy-Rey zu anderweitigen Sitzungen zusammenkamen, verrieten sie ihrer Kollegin kein Wort über den Verdacht. Wie der "SonntagsBlick" ergänzend berichtete, liess Couchepin gar noch den türkischen Botschafter zu sich rufen und die Geheimdienstversion bestätigen. Calmy-Rey vermochte die Vorwürfe schliesslich zu entkräften, worauf der Bundesrat Stillschweigen beschloss.

Zum Vorwurf, sie hätten sich gegenüber Calmy-Rey illoyal und unkollegial verhalten, schieben Couchepin und Metzler nun einander gegenseitig die Schuld zu: Couchepins Pressechef erklärt, der Bundespräsident habe Calmy-Rey zwar nicht über den Grund der Sondersitzung informiert. Er habe aber gewusst, dass sie davon über andere Kanäle erfahren habe. Ein anderer Mann aus Couchepins Entourage sagt, es wäre Metzlers Aufgabe gewesen, zuerst mit Calmy-Rey über den türkischen Vorwurf zu reden. Im Departement Metzler gibt man diesen Vorwurf zurück: Metzler habe mit Benachrichtigung des Bundespräsidenten ihre Pflicht erfüllt. Es wäre an Couchepin gewesen, vor der Sitzung die Aussenministerin zu informieren.


Psychklinik Blick
Karikatur im "Sonntagsblick" vom 2. November 2003: Das Bundeshaus als Psychoklinik.
Nachtrag vom 30. Oktober 2003. Der "Blick" heizt die Bundesratskrimi-Stimmung schon sechs Wochen vor der Wahl an. Er schreibt:

"Die Spannung ist nicht mehr zu überbieten. Blocher, Metzler oder Deiss: Es kommt bei allen auf jede einzelne Stimme an.
Das Blocher-Lager und das Lager von Joseph Deiss und Ruth Metzler sind exakt gleich stark - vorausgesetzt, die CVP sichert sich die volle Unterstützung der Linken.
Dazu verlangt die SP happige Zugeständnisse. Einfacher wirds mit den Grünen. Ihre Stimmen hat die CVP im Sack. Die Grünen streben mit einer eigenen Kandidatur gegen Samuel Schmid eine Mitte-Links-Regierung ganz ohne SVP an. Der Plan würde obsolet, wenn Blocher statt Metzler oder Deiss gewählt wird.
In dieser Patt-Situation darf sich jeder Parlamentarier als echter Königsmacher fühlen. Ein Verräter in der SVP oder FDP, der Blocher nicht wählt, kann reichen, um das Resultat zugunsten der CVP zu kippen. Ein abtrünniger Linker zu viel, der Metzler die Stimme verweigert, kann Blocher den Sieg bringen.
In den kommenden Fraktionssitzungen verträgts keinen Husten. Buchstäblich: Fällt am 10. Dezember jemand wegen Krankheit aus, kann das den Gang der Geschichte verändern."

Dieser Beitrag veranschaulicht, wann politische Wahlen auch für die Sensationspresse wichtig sein können.


Nachtrag vom 1. Nov: Die Affaire, die keine war
Wie heute "Blick" berichtet, hat sich die Bundesanwaltschaft in der Geheimdienst-Intrige entschieden: Es wird keine Ermittlung wegen verbotenen politischen Nachrichtendienstes eröffnet.
Bundesanwalt Valentin Roschacher sagte gestern, er könne in Bezug auf den Spionageverdacht "vorsichtige, aber eindeutige Entwarnung" geben. Trotzdem bleibe Aufklärungsbedarf. Der Bundesanwalt begründete den Verzicht auf Ermittlungen damit, dass das Gespäch von Calmy-Rey mit dem Kurden in öffentlichem Rahmen stattgefunden habe. Somit könne keine Rede von Spionage sein.
Bundesrätin Calmy-Rey informierte gestern die Aussenpolitische Kommission des Ständerates über die Affäre. Die Kommission stellte einen "erheblichen Klärungsbedarf" zum Umgang mit ausländischen Geheimdiensten fest. Deshalb soll sich jetzt die Geschäftsprüfungsdelegation von National- und Ständerat damit beschäftigen. Am 10. November will diese Delegation dann entscheiden, ob sie eine parlamentarische Untersuchung einleitet.


Nachtrag vom 9. November, 2003: Ein Monat vor der Bundesratswahl ist die Ausgangslage verworren
Im Wahlpoker dominieren Taktiken und Allianzen. Die Karten werden nicht offen gelegt. Niemand lässt sich in die Karten blicken. Offensichtlich wird hinter den Kulissen taktiert und spekuliert. Zur momentanen Situation:
  • Die FDP akzeptiert einen zweiten SVP Sitz, sofern er auf Kosten der CVP geht. Der Verlust von 3 der 4 Nachwahlen in den Ständerat heute macht die Situation für die FDP nicht besser.
  • Die CVP beharrt nach wie vor auf ihren beiden Sitzen und suchen Gespräche mit der SP.
  • Die SP, die im Ständerat mit neun Mandaten nun zur drittstärksten Partei wird, verweigert Blocher mit allen Mitteln den Einzug in den Bundesrat. Im Spiel der Varianten lässt sich die Partei verschiedene Türen offen.
  • Die SVP bleibt nach wie vor bei der angekündigten Forderung, Entweder wählt Ihr unseren Kandidaten oder wir gehen in die Opposition
  • Die Grünen haben bereits eigenen Kandidaten bereit, um dann einen Bundesratssitz zu beanspruchen, falls die SVP in die Opposition geht.
Die Spannung wächst. Alles ist möglich - alles ist offen.


Nachtrag vom 16. November. Obwohl sich alle Parteien getroffen hatten und sich zum Konkordanzgedanken bekannten, bleiben die Fronten verhärtet. Die Parteien verharren auf ihren Positionen. Niemand ist zu Kompromissen bereit. Der 10 Dez. naht.

Nachtrag vom 21. November. Das Rennen am 10. Dezember kann dramatisch werden.
Die SVP hält nach wie vor an einem Sitz für Christoph Blocher fest. Die FDP wird mit zwei Kandidaten ins Rennen gehen wobei die Namen erst später festgelegt werden. Vor dem Wahltag wollen sich die Spitzen der vier Bundesratsparteien nochmals treffen.

Die Grüne Partei "drohte" mit einer eigenen Kanditatur, falls die SVP bei einer Nichtwahl von Christoph Blocher tatsächlich in die Opposition geht. Sie wollen dann mit der Zürcher Nationalrätin und Parteipräsidentin Ruth Genner ins Rennen steigen. Die ebenfalls mögliche grüne Kandidatin Franziska Teuscher hatte sich zugunsten ihrer Parteikollegin zurückgezogen.
Ruth Genner ist seit April 1998 im Nationalrat und seit letztem Jahr Co-Präsidentin der Grünen Partei Schweiz. 1986 wurde sie Zürcher Gemeinderätin, bevor sie von 1987 bis 1997 im Zürcher Kantonsparlament sass. Genner hat zwei erwachsene Kinder und amtet seit zwei Jahren als Projektleiterin eines Gesundheitsförderungs- und Präventionsprojekts verschiedener Krankenversicherer.


Nachtrag vom 26. November.
Die FDP schickt den Appenzeller Hans-Rudolf Merz und die Bernerin Christine Beerli ins Rennen.
Etwas überraschend galt das deutliche Dominieren von Merz über dem früheren FDP Parteipräsidenten Steinegger.
Nach Aussage vom "Bund" und "Blick" hatte sich Steinegger vor der Faktion farblos präsentiert. Doch sei er nicht altershalber oder der schwarzen Flecken wegen (Swissair, Expo, Wählerverlust der FDP während seiner Amtsperiode als Parteipräsident) ausgemerzt worden, sondern vor allem der starken Frauen wegen, die Steinegger als gefährliche Konkurrenz zu Beerli gesehen hatten. Merz ist angeblich für Beerli weniger gefährlich, falls Blocher gewählt würde. In diesem Fall hätte der eher rechtspositionierte Merz keine grosse Chance mehr. Mit dem jetzigen Zweiterticket könnte deshalb die Rechnung für Beerli aufgehen.


Nachtrag vom 28. November.
Bundesrätin Metzler und Bundesrat Deiss nutzen eine Medienoffensive, um ihre Haut zu retten. Die beiden CVP Bundesräte hatten noch nie eine derartig massive Medienpräsenz wie während der letzten Tagen. Die jeweiligen Mediensprecher versuchten die überdurchschnittlich vielen Auftritte hinunterzuspielen. Es ist ein Tatsache: Wer die Medien als Plattform nutzen kann, hat immer eine Chance, die eigenen Botschaften zu "verkaufen". Polit-Berater warnen aber auch davor, dass eine übertriebene Medienpräsenz kontraproduktiv sein könnte.


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