Mit seiner "Reformrede" wollte Bundeskanzler Gerhard Schröder
aufzeigen, wie er Deutschland aus der Krise reissen werde.
Es war seine vierte Regierungserklärung nach der Wahl.
Der Begriff "Reformrede" weckte hohe Erwartungen. Journalisten prognostizierten,
dass ein Missraten einer so gross angekündigten "Reformrede" zum Symbol
des politischen Endes eines Kanzlers werden könne, dass sich aber
anderseits dem Kanzler mit einem 42 Seiten langen Manuskript die Chance bot,
seine Regierung aus dem politischen Tief zu retten. Man war auch gespannt, ob
es in Anlehnung an Churchill's Rede vom 13. Mai 40 eine "Blut-, Schweiss-
und Tränenrede" werden würde. Die Bildzeitung publizierte vor der
Rede ihre eigene Wunschrede.
Zur Vorbereitung
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Man wusste bereits vor dem Auftritt, dass sich der Kanzler wochenlang
mit Vorbereitungen zu dieser Rede beschäftigte.
Ghostwriter Rheinhard Hesse, Kanzleramtchef Steinmeier,
Schröders Ehefrau Doris wie auch andere mehr wirkten bei den Vorbereitungen
mit.
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- Zuerst wurden verschiedenste Gedanken gesammelt.
(Vergleiche
Kreativitätsbausteine.)
- Dann holte der Kanzler Vorschläge ausserhalb des Amtes ein.
- Hierauf konnte Redeschreiber Hesse den ersten Entwurf fertigen.
- Anschliessend wurden in den Rohtext neue Ideen reingepackt oder es gab
Streichungsvorschäge.
- Dieses Verfahren wurde mehrfach wiederholt.
- Letztes Wochenende überarbeitete Schröder den Text persönlich
auch mit letzten Anregungen seiner Frau von der Schröder einmal sagte,
"Sie ist die bessere Hälfte von uns beiden."
Obschon die Vorbereitungen im stillen Kämmerlein erfolgten, gab es von
allen Seiten Mutmassungen, was der Kanzler zur Aufhebung des
Kündigungsschutzes oder der Kürzung des Arbeitslosengeldes sagen werde.
Die linke Seite befürchtete eine "Beerdigung des Sozialstaates".
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Zum Journalisten Reinhard Hesse:
Gerhard Schröder hatte sich noch bevor seiner Kanzlerwahl zwei Bücher
von Hesse schreiben lassen. Am Tag seines Wahlsieges wälte
ihn Schröder zum offiziellen Redenschreiber. Harald Willenbrock
schreibt im NZZ Folio über Hesse: "Seither
brütet der Journalist darüber nach, was sein Chef denken und wie er
es sagen könnte. Bis zu sieben Reden pro Woche sind es, die er dem
mächtigsten Deutschen in den Mund legt. Mittlerweile weiss er, dass
Schröder Wiederholungen hasst, griffige Sprachbilder liebt und dass es
zwecklos ist, ihm bei langen Sätzen das Prädikat an den Anfang zu stellen
(was ihr Verständnis erleichtern würde), weil der Bundeskanzler es doch
wieder ans Ende packt."
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Zur Rede
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Der Rede war weder eine Kampfansage noch eine "Schweiss-Blut-Tränenrede".
Schröder gab auch keine grosse Versprechungen. Es fehlten lägerfristige
Visionen und detaillierte Konzepte. Auf Ängste der Bevölkerung
ging der Kanzler nicht ein.
Obschon die Rede rhetorisch geschickt präsentiert wurde und der Kanzler
versuchte, den Text in gewohnt medientauglicher Manier vorzutragen, so gab
es nach unserem Dafürhalten inhaltich zu viele Leerformeln
(vgl. Airbagrhetorik).
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Einige Beispiele aus der Fülle hohler Formulierungen,
Plausibiltätsformulierungen handelte, die immer richtig sind,
allen einleuchten und nicht angegriffen werden können:
- Die Politik muss in dieser Situation handeln und Vertrauen schaffen.
- Wir müssen Rahmenbedingungen für mehr Wachstum und mehr
Beschäftigung verbessern.
- Alle Kräfte der Gesellschaft werden ihren Beitrag leisten müssen
- Kooperation ist besser als Konfrontation.
- Wir müssen die Wettbewerbsfähigkeit verbessern!
- Wir müssen zum Wandel im Innern bereit sein.
Entweder modernisieren wir oder wir werden modernisiert!
- Es gibt nur eine Konsequenz. Es braucht einen Umbau des Sozialstaats und
die Substand der Sozialstaates erhalten zu können.
- Wir haben eine moderne Zuwanderungsregelung.
- Wir haben feststellen müssen: Die Geschwindigkeit reicht nicht aus.
- Unsere Agenda hat weitreichende Strukturänderungen und Fundamente des
Gemeinwesens gestärkt,
- Der Pakt lässt Raum und muss Raum lassen für unvorhergesehene Ereignisse.
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All diesen Formulierungen mangelt es an konkrete Angaben,
Der "Redeberater"
schrieb umgehend von einer schwachen Vorstellung:
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Friedhelm Franken vom "Reden-Berater", der die Schrödersche
Rede analysierte, kritisierte drei Punkte:
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- Das Publikum muss dem Redner die nötige Kompetenz und
Autorität zutrauen. Das trifft bei Bundeskanzler Schröder,
ausweislich der Meinungsumfragen, nicht mehr zu.
- Die Rede muss zum richtigen Zeitpunkt stattfinden: zu
früh ist ebenso schädlich wie zu spät. Für eine
"Blut, Schweiß und Tränen-Rede" ist es noch zu früh,
weil es den meisten Deutschen immer noch sehr gut geht.
Eine "Ruck"-Rede auf den 14. März 2003 zu legen, war
terminlich hingegen zu spät: sie hätte deutlich früher,
nämlich gleich nach der wiedergewonnenen Wahl kommen müssen.
- Die Botschaft muss, nach der rhetorischen Formel
KISS = "Keep it Stupid and Simple"
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klar und einfach sein.
Statt schlicht und schnörkellos zu sagen, welche 10
Änderungen die Regierung vorhat, kam der Kanzler erst
nach einer Viertelstunde überhaupt zum Thema und drückte
sich anderthalb Stunden lang in gewundenen Sätzen aus.
So ähnelte er mehr einem Laakoon, der mit den Schlangen
kämpft, als einem Macher mit Durchblick.
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Schröder nannte nur wenig konkrete Massnahmen zur
Stimulierung der Wirtschaft:
- Wer fünf Jahre erfolgreich lang ein Unternehmen
geführt hat, darf ausbilden dürfen.
- Wer als Geselle 10 Jahre gearbeitet hat, darf sich als
Handwerker selbständig machen.
Rhetorisch überzeugte Schröder nach wie vor durch
sein Engagement und den Druck. Nachteilig wirkte sich die strikte Bindung
ans Manuskript aus. Er war leider gezwungen, sich an die vorformulierten
Worte zu halten, die langfristig vorbereitet worden waren. Schröder
ist normalerweise dann stark, wenn er frei spricht. Dann kann er gut motivieren.
Hätte er die Bevölkerung ansprechen wollen - mit der Absicht, die
Öffenlichkeit zu motivieren-, dann hätte Schröder frei
sprechen müssen. Doch der Tiger wurde in Ketten gelegt.
Reaktionen
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- Schröder wird von einem Rhetorikexperten beim N-TV vorgeworfen,
dass er in den 90 Minuten zu viel zu verpacken versuchte:
- Investitionsprogramm
- Krankenversicherung
- Kündigungsschutz
- Lohn-Nebenkosten
- Arbeitslosigkeit
- Sanktionen bei Arbeitsunwilligen
- Mahnende Worte an die Arbeitgeber
- Bemängelt wurde von allen der fehlende rote Faden.
Volkswirte werteten in N-TV die Rede als zu zaghaft:
Der Kanzler wirke zu "timide" und Schröder sei
nicht überzeugt gewesen von dem, das er gesagt habe.
- Verschiedene Sender versuchten die Stimmung des Publikums durch Umfragen
zu erfassen. Bei der Kürzung des Arbeitslosengeldes zeichnet sich eine
Zustimmung ab (60%) ab. Beim Krankengeld, das privat versichert werden soll,
ergaben die Umfragen nur ein Zustimmung von 27%.
- Die Opposition vermisste konkrete Zielvorgaben.
- Den Arbeitgebern gehen die Vorschläge zu wenig weit.
- Merkel: "Reden ist Silber, Handeln wäre Gold".
- Für Stoiber zeigte die Rede, dass Deutschland ein Sanierungsfall sei.
Erstaunlicherweise ist Stoiber zur Zusammenarbeit mit dem Kanzler bereit.
- Westerwelle fand, die Rede habe vor allem aus Lyrik bestanden.
- Die Gewerkschaften sind unzufrieden. Sie wissen, dass sie bei den
Kürzungen den Kürzern ziehen werden.
- Ein TV- Kommentator sagte, dass der Kanzler gleichsam in eine Falle getappt sei,
denn er habe bei dieser "Zauberrede" die Erwartungen selbst zu hoch geschraubt.
- In einer Analysesendung des ZDF's hiess es:
Es war ein pragmatische Rede, keine begeisternde.
- Es sei keine historische Rede aber eine Arbeitsrede gewesen.
- Eine andere Stimme sagte, die Rede wäre mutig gewesen, weil sie
vor Zumutungen der eigenen Leute nicht zurückschreckte.
- Der Kanzler habe mehr ans Hirn als ans Herz appelliert.
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Merkel zu Schröder:
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"Auf der Computermesse CeBIT wurden Sie
gefragt, wann es mit Deutschland wieder aufwärts geht. Sie sagten: am Freitag. In
einem halben Jahr werden Sie sagen: Sie hätten ja nicht gesagt, an welchem
Freitag..."
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Trotzdem anerbot die Oppositionsführerin dem Kanzler eine "nationale Kraftanstrengung".
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FDP-Chef Guido Westerwelle:
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"Das sollte eine Ruck-Rede werden, übrig geblieben ist ein bisschen Vibration."
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SPD-Fraktionschef Franz Müntefering kontert:
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"Wenn ich Herrn Westerwelle so höre, sehe ich Frau Thatcher ihr
Handtäschchen schwingen."
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Die Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt und Theologin:
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"Es ist ja
viel erwartet worden von diesem Tag. Um dem allen gerecht zu werden, hätte
der Kanzler wenigstens über das Wasser gehen oder mit fünf Broten und ein
paar Fischen die ganze Nation satt und glücklich machen müssen."
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