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www.rhetorik.ch aktuell: (12. Dezember, 2001)


Gruppenphänomene bei Verbrechen


Wenn Jugendliche andere Menschen scheinbar kaltblütig umbringen, mutmassen Psychologen, Pädagogen, Soziologen und andere Fachleute sofort über die Hintergründe dieser unverständlichen Tat:
Hans Haldemann Der jügnste Vorfall einer vorsätzlichen Tötung eines Kameraden durch Jugendliche in Münsingen schockte einmal mehr die Öffentlichkeit in der Schweiz. Die Medien thematisierten die Geschichte für längere Zeit.
Der 21 jährige Hans Haldemann wurde von sechs Kollegen regelrecht exekutiert und im Wald liegen gelassen.
Die Polizei wusste bald, dass die Hinrichtung nicht spontan gewesen war, sondern kaltblütig geplant wurde. Einzelne Geständnisse machten nämlich deutlich, dass die Tat nicht im Affekt verübt worden war.
Haldemanns "Freundesclique" - drei Schweizer, eine Schweizerin, ein Italiener und ein Mazedonier bestellten den jungen Dachdecker vorsätzlich zur Exekution. Sie verabredeten sich mit dem Opfer und fuhren mit zwei gestohlenen Autos auf die Dach-Terrasse des Berner Bahnhofs. Die Motive und Einzelheiten sind noch nicht alle bekannt. Immerhin wissen wir, dass Hans Haldemann mit Schüssen aus mehreren Gewehren aus nächster Nähe erschossen wurde.


Da es in der Schweiz noch weitere Fälle von Gruppenverbrechen gab, wie beispielsweise den jüngsten Vorfall im Wallis vom Dienstag, 27. November 2001 in Stalden oder die zurückliegende Tat im solothurnischen Langendorf, fragt man sich natürlich wieder, wie es überhaupt so weit kommen kann, dass Jugendliche jemanden umbringen.
Im Wallis wurde ein 14-jähriger Orientierungsschüler von Schulkollegen zusammengeschlagen und spitalreif auf das Gleis der Visp-Zermattbahn geworfen. Ein Retter konnte den hilflosen Schüler in letzter Sekunde vor dem vorbeidonnernden Zug retten. Am 27. Januar 2001 prügelten Neonazis einen 19-jährigen Kollegen zu Tode und versenkten ihn im Thunersee. Diese Jugendliche hatten sogar noch zwei weitere Morde geplant.
Wer die Gewaltverbrechen bei Jugendgruppen analysiert, kann feststellen:
Gruppenmord Die Entwicklungsphasen bei allen Vorfällen sind meist ähnlich: Zuerst spielt eine Gruppe nur gedanklich damit, einem Kollegen etwas anzutun oder ihm einen Denkzettel zu verpassen. Die Ideenskizze wird hierauf geistig durchgespielt, einige Varianten werden entworfen. Die Gruppe spinnt hierauf längere Zeit diese Szenarien weiter und redet längere Zeit immer wieder darüber. Die Bilder (Visionen) reifen allmählich zu konkreten Aktionen. Das blosse Gedankenkonstrukt nimmt Gestalt an und führt zu einem realisierbaren Szenario.
Der geistige Entwurf - bereits detailliert verfeinert - muss jetzt nur noch zur Aktion werden.
Da die ganze Gruppe von der unverbindlichen Idee bis hin zum ausgereiften Plan bei allen Phasen dabei war, bedeutet es für das einzelne Gruppenmitglied kaum ein Problem, bis zum Schluss dabei zu bleiben.
Niemand fühlt sich ja für die Ausführung persönlich verantwortlich und es braucht für den letzten Schritt, die Ausführung der kriminelle Tat in der Gruppe, keine allzu grosse Ueberwindung mehr. Für das Projekt steht ja immer das ganze "Team" gerade. Weil die Clique "gemeinsam die Last" trägt, ist die Belastung für den Einzelnen nicht mehr gross. (Ähnlich werden bei Exekutionen durch Steinigungen oder Erschiessen durch eine Gruppe die Belastung der einzelnen Täter geteilt).
Bei Untersuchungen zeigt sich immer wieder: Am Schluss weiss niemand mehr richtig, wer zuerst den Gedanken - die Idee zum Verbrechen - gehabt hatte, weil die Tat tagelang durchdiskutiert worden ist.
Friedrich Dürrenmatt beschreibt im "Besuch der alten Dame" sehr detailliert, wie ein ganzes Dorf einen Mord ausheckt und letzlich gemeinsam durchführt. Im ganzen Dorf fühlt sich auch dort niemand verantwortlich für die Tat. Selbstverständlich spielt bei Gruppenverbrechen der Gruppendruck ebenfalls eine wichtige Rolle. Dieser Dynamik hindert Aussteiger, sich in der letzten Phase abzusetzen.
Obschon in der Schweiz kein Anstieg der Zahl von Tötungen durch Jugendliche nachgewiesen werden kann, macht uns das "Vorbild USA" deutlich, dass sich in den Staaten bereits eine Verdreifachung der Mordtaten durch Gruppen abzeichnet. Jugendliche zwischen 14-24 Jahren begehen bereits 50% dieser Taten. Es ist zu befürchten, dass sich in Europa diese Tendenz wie üblich - lediglich etwas verspätet - nachzeichnet.
Gerne wird bei den Diskussionen über die Gruppenmorde als Erstes den Medien die Schuld in die Schuhe geschoben. (Siehe dazu: zum Leben gehört Auseinandersetzung).
Medienpädagogen haben jedoch erkannt, dass die Gewaltdarstellungen in den Medien Jugendlliche nicht so stark beeinflussen, wie landläufig angenommen wird. Doch ist es erwiesen, dass Gewaltszenen unbewusst nachwirken und sich in den Köpfen als denkbare Problemlösungsöglichkeiten einnisten können. In labilen Notsituationen können später diese verinnerlichten Muster schneller abgerufen werden. Die Verhaltensweisen sind gleichsam griffbereit. Bilder haben immer eine enorme suggestive nachhaltige Wirkung.
Alle, die sich mit Gruppen und Teamphänomenen aueinandersetzen, wissen, dass sich eine Gruppe leichter zu kriminellen Taten hinreissen lässt als eine Einzelperson. In der Teamkommunikation haben wir im Kapitel "Nachteile der Teamarbeit" ebenfalls darauf hingewiesen, dass viele im Team deshalb mutiger reagieren, weil die Verantwortung geteilt wird und sich der Einzelne im Team verstecken und verschanzen kann.
Wer mit Teams zu tun hat, muss dieses Phönomen berücksichtigen und hat dafür zu sorgen, dass die einzelnen Teammitglieder konkrete Verantwortungsbereiche übernehmen.
Bei jugendlichen Gruppen sind gruppendynamische Phänomene nichts Neues. Im Krieg, bei "Saubannerzügen", bei Demonstrationen (siehe dazu den Aktuellbeitrag vom 1. Mai) oder Sportanlässen sind bestimmte Phänome der Massenpsychologie seit je feststellbar.
Bei kleineren Gruppen spielen zum Teil ähnliche Phönomene wie bei Massen mit. Pädagogen und Soziologen sind sich aber darin nicht einig, welches letztlich der eigentliche Grund der zunehmenden Bereitschaft zum Töten in Gruppen sein könnte. Vielleicht liegt die Antwort auf diese Frage in der Summe verschiedenster zum Teil gegensächlicher Thesen, wie:
  • Die Jugendlichen sind orientierungslos. Es fehlen "Leitplanken", Grenzen und Normen.
  • Eine Sinnleere macht sich breit.
  • Viele Jugendliche sind emotional verwahrlost. Sie sind sich zu lange selbst überlassen. Sie werden im Grunde genommen gar nicht mehr erzogen. Josef Sachs, der Leiter des gerichtspsychiatrischen Dientes KT AG stellt fest, dass bei Tötungsdelikten von Jugendlichen oft kein erkennbares Motiv besteht. Wer emotional verwahrlost ist, ist nicht mehr fähig, etwas zu empfinden.
  • Es fehlen Eltern oder konstante Bezugspersonen. Das egozentrische Verhaltens hat negative Auswirkungen wie falsch verstandene Selbstverwirklichung oder Fehlen von Balance zwischen ich und wir.
  • Die Aussichten auf eine sinnvolle, ausgefüllte Zukunft sind düster, wenn Perspektiven fehlen.
  • Es fehlen Herausforderungen oder Reize wie Abenteuer, Hindernisse, Widerstände oder Arbeit. Die hedonistische Grundhaltung dominiert. "Konsum, Genuss - aber subito!"
  • Niemand hat je gezeigt oder beigebracht, wie man mit "Verzichten können", mit Frust, Stress oder mit Konflikten umgehen könnte. Eine gute Streitkultur müsste schon in der Schulzeit erworben werden. Jeder Verzicht ist unzumutbar. Die kleinste Belastung wird als "Stress" empfunden.
  • Langeweile macht sich breit. Bei Befragungen zeigt sich immer wieder: Verbrechen werden oft aus purer Langeweile und ohne Grund begangen. Mord aus Langeweile ist etwas, das selbst Richter erstaunt. Im amerikanischen Littleton stellte sich heraus, dass die Schüler vor allem aus Langeweile mordeten. Die Langeweile ist zunehmend ein Grund, "einfach so" kriminelle Taten zu tun. Vielleicht auch, weil "Herumhängen" zur Norm geworden ist.

Erkenntnis: Alle, die mit Erziehung und mit Jugendlichen zu tun haben, sind gefordert, dort wo es möglich ist, vermehrt Einfluss zu nehmen. Es geht nicht nur darum, mit Konflikten und Spannungen umgehen zu lernen und vereinbarte Grenzen einzuhalten. Es ist längst erkannt worden, dass sich das "Nichterziehen", das "laissez faire" d.h. auch die falsch verstandene antiautoritäre Erziehung als allgemeingültiges Rezept nicht bewährt hat. Die Jugendlichen wollen Vorbilder, echte Bezugspersonen haben, die sich Dialogen stellen und sich persönlich mit ihnen auseinandesetzen. Jugendliche wollen gefordert sein. Fehlt diese Herausforderung, so suchen sie sich Orte oder eine unerwünschte Subkultur, wo sie sich bewähren müssen. Siehe dazu den Artikel "Lehrkräfte zu Persönlichkeiten schulen".
Werte können nicht mehr nachträglich im Pubertätsalter nachgereicht werden. Dann ist es zu spät. Erziehungsprozesse bleiben stets Auseinandersetzungsprozesse.


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