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www.rhetorik.ch aktuell: (ab 6. April 2003)

In 100 Tagen beinahe so populär wie Christoph Blocher




Quelle: zdf.de Nach 100 Tagen im Amt als Bundesrätin, ziehen Medien erste Bilanz über die neue Schweizer Bundesrätin Micheline Calmy-Rey. Dies ist eine Fortsetzung zu den folgenden Rhetorik-Aktuell Beiträgen:


100 Tage im Amt

Erst drei Monate im Amt - und Micheline Calmy-Rey ist ganz oben in der Hitparade der bekannten Persönlichkeiten.
Nach alter Väter Sitte gibt es für alle Politiker eine Schonfrist von 100 Tagen. Die meisten neugewählten Magistraten arbeiten sich zuerst vorsichtig ein. Zurückhaltung ist in der Startphase üblich. Am kommenden Donnerstag ist die neue Bundesrätin bereits 100 Tage im Amt. Sie schaffte es in diesem kurzen Zeitraum, zur Spitzengruppe der bekannten Persönlichkeiten vorzustossen.
Gemäss Umfragen ist sie heute hinter Christoph Blocher die bekannteste Politikerin im Land. Vom ersten Tag an stand sie im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, mitunter zur Verärgerung gewisser Bundesratskollegen und Parteisprechern. Nach den zahlreichen Mediengeschichten wundert sich kaum noch jemand, wieso die ehemalige Genfer Finanzdirektorin "Cruella" genannt wurde. Vielen verging das Lachen, weil die neue Aussenministerin laufend "freundlich" ihre Zähne gezeigt hat.

Ohne Medien keine Popularität

Die neue Bundesrätin hat sich sofort für "Home-stories" zur Verfügung gestellt. Damit war der Weg zur Popularität geebnet. Blick und Sonntagsblick schätzten es, in Micheline Calmy-Rey eine Person gefunden zu haben, die kein Versteckspiel gespielt hat und sich beispielsweise auch als Grossmutter mit dem Enkelkind ablichten liess. Wer bereit ist, die Privatsphäre den Medien offenzulegen, hat den grossen Vorteil, dass diese dieses Spiel gerne spielen. Die Medien haben exklusive Geschichten und die prominente Person profitiert ihrerseits von der Boulevardpresse. Die Boulevardmedien stützen ihre Partner auch dann noch, wenn sie im Gegenwind stehen.
Jede Münze hat aber zwei Seiten:

Wer sich bei den populären Medien zu stark aus dem Fenster lehnt, kann es später erleben, dass dieses angeblich offene, ehrliche Verhalten missbraucht wird.


Homestory Schweizer Illustrierte

"Hundert Tage-hundert Fettnäpfe"

Mit diesem Titel beleuchtet die "NZZ am Sonntag" vom 6. April die ersten hundert Tage der neuen Bundesrätin.
Als "frechster Frischling" wird sie geschildert. Ihren Ruf als eigenwillige, unberechenbare, zu chaotischer Amtsführung neigende, aber bei den Massen beliebte Regierungsfrau habe die Genfer Kantonspolitikerin im Bundeshaus bestätigt. Angeblich müssten die Mitarbeiter ihre Vorgesetzte ständig bremsen. "Wir schaffen es, ihr von hundert Ideen achzig auszureden", sagte einer. "Aber von den zwanzig, die bleiben, sind auch nicht alle gut." Welche schliesslich übrig bleiben, müssen manche im Departement jeweils der Tagespresse entnehmen, so wird der Sonntagsblick zur Befehlsausgabe, wie z.B. die Ankündigung der Liste über die zivilen Opfer im Irak-Krieg.
In der Öffentlichkeit schaffte sich die Bundesrätin den Ruf eines Friedensengels im Bundesrat. Dieses Bild kam bei den Massen sehr gut an.
Der Blick über die Grenzen sieht jedoch etwas anders aus. Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" hat in der neuen lärmigen Aussenpolitik der Eidgenossenschaft bereits Ansätze zur Lächerlichkeit ausgemacht. Jede Ermahnung an die Aussenpolitikerin, sich künftig besser im bundesrätlichen Kollegium abzustützen, müsste ernst genommen werden. Wir sind ebenfalls der Meinung, dass vor jeder "Information nach Aussen" (Verlautbarung in den Medien) immer erst die Zielsetzung intern abgesprochen werden muss. So ist etwa der Spaziergang über die Demarkationslinie zwischen Nord- und Südkorea keine Privatsache der Aussenministerin, sondern ein Akt von eminenter politischer Symbolik, der vorgängig eingehend abgesprochen werden muss - nicht erst nach der Publizierung im "Sonntagsblick".
Die Bundesrätin kommentierte selbst in keiner Zeitung die Kritik an ihrer Amtsführung. Für sie scheinen diese Konflikte in der Politik normal zu sein. Derartige Situationen waren ihr gewiss auch als knallharte Staatsrätin in Genf bestens bekannt.

Auch der Bundesrat rügt Calmy-Rey

Gemäss "Sonntagszeitung" vom 6. April hat nun auch der Bundesrat die Aussenministerin abgemahnt. Durch die diversen geplatzten Ankündigungen der amtsjüngsten Bundesrätin werde die Glaubwürdigkeit des Gremiums angekratzt. CVP Ständerat Bruno Frick, dessen Partei selbst um ihre Bundesratssitze fürchten muss, droht: "Im Herbst sind Bundesratswahlen. Calmy-Reys Kariere ist keineswegs gesichert."

Krach im eigenen Departement

Mit der reinen Ankündigkungspolitik verspielte sich die engagierte neue Bundesrätin immer mehr Kredit
  • mit der "öffentlichen Diplomatie"
  • mit der "Konferenz der letzten Chance", die nie stattfand
  • mit der "humanitären Konferenz", die lediglich ein technisches Treffen wurde
  • mit dem "Listenprojekt", das abgeblasen werden musste
  • mit der angekündigten "Grenzwanderung" von Süd- nach Nordkorea.
Dass nach diesen Vorkommnissen der Vizekanzler Casanova anlässlich der Krisensitzung von internen Konflikten spricht, ist aussergewöhnlich. Dies macht deutlich, dass der Bundesrat die Probleme mit Calmy-Rey nicht als Bagatelle betrachtet; obschon die Aussenministerin im Volk nach wie vor beliebt ist.

In eigenen Departement werden angeblich Gräben aufgerissen.

Nach der "Sonntagszeitung" sind leitende Mitarbeiter im EDA frustriert und besorgt. Calmy-Rey habe sich ausschliesslich auf den Irak-Konflikt konzentriert. Die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) habe der traditionellen Aussenpolitik unter Staatssekretär Franz von Däniken den Rang abgelaufen. Dieser überlege sich sogar den Abgang.
Calmy-Rey bestimme die Tagesgeschäfte im Alleingang. Sie führe das EDA wie früher die kleine Genfer Finanzdirektion - mit der Taschenagenda. Sie wolle überall selbst eingreifen und verliere den Überblick. Dieser Aktivismus wirke sich im engsten Umfeld verheerend aus. "Wir wissen zu oft nicht, was unsere Chefin macht und will", sagt einer. Bereits zeichne sich ein weiterer Flop ab: Der in den Medien angekündigte Plan, den Verkauf von Panzerhaubitzen in den Vereinigten Arabischen Staaten zu stoppen, scheint schon wieder schubladisiert. Die zuständige Kontrollstelle habe jedenfalls bis heute keinen Antrag aus dem EDA erhalten.

Sogar die SP runzelt angeblich die Stirn

Eben feierte die Parteizeitung "Links" Calmy-Rey als "vorbildliche" Wahlkämpferin. Jetzt nach bald hundert Amtstagen fürchen die SP-Spitzenleute: "Wenn es so weitergeht, wird die Bundesrätin im Wahlkampf zur Hypothek". Wie geht es weiter? Wir prognostizieren: Mit einer handzahmen Aussenministerin können wir auch künftig nicht rechnen.


Nachtrag vom 10. April. Volksliebling oder enfant terrible?
Nach der Standortbestimmung zur Amtsführung der neuen Bundesrätin nach 100 Tagen, interessierte es uns, ob die Bundesrätin vor Mikrofon und Kamera zur Kritik in den Medien Stellung nimmt. Verschiedenen Journalistinnen sprachen die Aussenministerin auf die Zeitungsartikel an: "Alles gut, Frau Calmy-Rey - nach den ersten 100 Tagen?" Micheline Calmy- Rey verhielt sich ruhig, trotz wiederholter Versuche der Journalisten, eine Stellungsnahme zu erhaschen. Sie lachte - und sagte nichts. Aus unserer Sicht war diese Zurückhaltung in dieser Situation richtig. Richtig war auch die Reaktion des Kollegen Leuenbergers. Angesprochen darauf, was er zu den ersten Tagen seiner Kollegin sage, antwortete er einmal mehr rhetorisch geschickt:

"Ich war ein Spätzünder. Ich brauchte 150 Tage."


Implizit heisst dies: "Ich beurteile meine Kollegin nicht. Vielleicht ist sie noch nicht so weit, wie sie sein sollte, aber dies ist normal." Das Schweizer Fernsehen kam in der Sendung "10 vor 10" auf die Medienberichte "100 Tage im Amt" zurück. Die verschiedenen Stellungnahmen von Parlamentariern verdeutlichten, dass die Bundesrätin auch im Parlament polarisiert. Einerseits sei sie Volksliebling, handle kreativ und gehe neue Wege. Andererseits wurde ihre Ankündigungspolitik beanstandet. Die Aussenministerin mache die Dossiers zur Privatsache und spreche die Inhalte nicht ab.


Nachtrag vom 17. April. Camly-Rey überrumpelt?
Bundesrätin Calmy-Rey unterlag zusammen mit den Kollegen Leuenberger und Deiss dem Gesamtbundesrat beim Kampfjet-Deal. Mit steinerner Mine - ohne jedes Engagement - las die Aussenministerin an der Medienorientierung den Entscheid des Bundesrates vor.
Der Bundesrat hob überraschend das Überflugsverbot für englische und amerikanische Flugzeuge auf. Man vermutet einen Zusammenhang mit einen vorbereiteten Kampfjet-Deal mit den USA: Vor dem Irakkrieg wollte die Schweiz 32 veraltete TIGER F-5 Kampfflugzeuge verkaufen, die als "Zielscheiben" für militärische Übungen in Arizona gedacht waren. Um das Geschäft nicht platzen zu lassen, schlug Bundesspräsident Couchepin deshalb vor, die Flugeinschränken ganz aufzuheben. Calmy-Rey musste sich wohl oder übel diesem Entscheid fügen.


Nachtrag vom 26. April 2003, Micheline Calmy-Rey nimmt Unruhe in Kauf
Calmy-Rey, Photoquelle: NZZ Die neue Aussenministerin zog nach ihren ersten 100 Amtstagen persönlich eine positive Bilanz. Nach den unterschiedlichen Medienechos interessierte uns ihre eigene Beurteilung.


An der mit Spannung erwarteten Medienorientierung war zu erfahren:
  • Die Irak-Krise hat der Magistratin den Zeitplan diktiert.
  • Während der Einarbeitungszeit musste die neue Bundesrätin die Schweiz positionieren.
  • Sie war stolz, die Feuerprobe bestanden zu haben.
  • Sie setzte zwei Schwerpunkte: Sichtbarkeit und Kohärenz


Für Calmy-Rey heisst "Öffentliche Diplomatie" unter anderem:

"Die übliche Verschwiegenheit im Zusammenhang mit Abkommen und Staatsverträgen durch eine offenen Kommunikation der Position ersetzen. Nur so kann Druck auf die Verhandlungspartner ausgeübt werden. Anderseits steht man dadurch unter starker Beachtung und wird - etwa im Fall des humanitären Treffens von Genf- ständig kritisiert."




Damit nimmt die Bundesrätin die durch die "öffentliche Diplomatie" hervorgerufene Unruhe bewusst in Kauf. Sie steht nach wie vor zu ihrer Definintion der "öffentlichen Diplomatie" und will dieses Modell weiterhin in ihrem Sinn pflegen. Wir kamen in unseren ersten Analysen zur Erkenntnis:

"Öffentliche Diplomatie" darf nicht heissen, Pressemitteilungen unbedacht, unkoordiniert zu kommunizieren. Wenn Verlautbarungen revidiert werden müssen, leidet die Glaubwürdigkeit. Wir vertraten ferner die Meinung, dass es bei der Öffenltichkeitsarbeit nicht darum geht, Unruhe zu stiften. Das Unruhestiften darf unter keinen Umständen zum Selbstzweck verkommen. Kritik ist stets als "konstruktives Feedback" ernst zu nehmen.


Falls sich die neue Bundesrätin nach Jahren nur noch auf das Bild einer Frau, welche ständig beisst (dauernd die Zähne zeigt), reduziert werden könnte, so wäre dies schade. Wir befürworten ebenfalls die Eigenständigkeit von Politikern und den Mut, gegen den Strom zu schwimmen. Die Bundesrätin darf und soll weiterhin persönliche Akzente setzen. Doch gilt bei Kommunikationsprozessen: Das ganze Kommunikationsmodell mit dem ich und dem Du muss beachtet werden. Die hohe Kunst der vertrauenswürdigen Kommunikation besteht darin, die Balance zwischen dem "sich selbst ernst nehmen" und dem "Interesse am Du, dem Berücksichtigen der Adressaten" zu finden. Bei der Oeffetlichkeitsarbeit ist dies genau gleich: Die Interessen der Politikerin, der Journalisten (Medien) und des Publikums muss unter einen Hut gebracht werden. Dieser Balanceakt hat nichts mit Farblosigkeit zu tun.


Nachtrag vom 27. April: Gast am Sechseläuten als Stein des Anstosses?
Sechseleuten Susann Lilly Pflüger, oberste Zünfterin lächelt zuerst nur auf die Frage, ob der hohe Ehrengast aus Bern bei der Frauenzunft den Neid der bundesratslosen Männerzünfte wecke oder ob die Einladung Calmy-Reys lediglich als ein kluger Schachzug gedacht sei. Nach einem Augenblick des Schweigens, sagte sie dann:
"Der Wind, der jetzt um den Besuch von Calmy-Rey gemacht wird, ist wohl ein Medienphänomen. Die Gesellschaft zu Fraumünster hatte Micheline Calmy-Rey noch am gleichen Tag, an dem sie gewählt worden ist, gratuliert und ans Sechseläuten eingeladen. Die Bundesrätin hat sich damals gefreut und sofort zugesagt. Übrigens wurden noch weitere prominente Frauen eingeladen, die jedoch von der Presse mit keinem Wort erwähnt worden sind: Frau Brigadier Doris Portmann, Frau Major im Generalstab Marlis Jacot-Guillarmod und Doris Fiala."

Nach unserem Dafürhalten zeigt diese zusätzliche unbedeutende Mediengeschichte, dass diese Sache nichts mit der Amtsführung der Bundesrätin zu tun hat. Sie macht hingegen deutlich:

Wer einmal ins Schussfeld der Medienkritik gerät, muss damit rechnen, dass selbst Nebensächlichkeiten als Mediennews "verkauft" werden.


Die Bundesrätin hat natürlich das Recht, bei der Frauenzunft mitzumaschieren. Anderseits besteht bei allen mutigen Handlungen das Risiko, sich zu exponieren und der Kritik auszusetzen. Nachdem wir jedoch gehört haben, dass Frau Calmy-Rey Unruhe und Kritik problemlos in Kauf nimmt, wird bestimmt diese nebensächliche Mediengeschichte keinen gossen Staub aufwirbeln. Die Bundesrätin müsste lediglich beachten, dass die Summe an sogenannten "Geschichten" das Gesamtbild oder Image langfristig beeinflussen können.


Nachtrag vom 28. April. Rhetorisch geschickt reagiert.
In einem mehrseitigen Interview in der Sonntagszeitung vom 27. April mit Bundesrätin Calmy-Rey sehen wir, dass die neue Bundesrätin es versteht, auf Antworten geschickte Klärungsfragen und Gegenfragen zu stellen. Hier einige Beispiele:

Journalist: Calmy-Rey:
Auch Sie nutzen das Mittel des Eclats, um Politik zu betreiben! Geben Sie mir ein Beispiel, wo ich das getan habe!
Hierauf musste der Journalist einen Punkt suchen und konnte nur den Bruch des EU-Tabus erwähnen.
Beobachter haben das Gefühl, dass Sie den EU-Themen wie Osterweiterung, Kohäsionsfond oder Personenfreizügigkeit zu wenig Aufmerksamkeit schenken. Wer sagt das? Ich habe das Dossier sehr ernst genommen.
Etliche bürgerliche Politiker und Medien haben Ihnen vorgeworfen, politisch naiv zu sein. Wer? Ich?
Sind Ihnen symbolische Auftritte wichtig? Warum fragen sie das?


Ferner setzt die Politikerin deutliche unmissverständliche Stop-Signale z.B.:

  • "Das habe ich nicht gesagt...."
  • "Nein, nein. Ich bin jemand der sehr seriös ist...."
  • "Nein, ich würde dies nicht so sagen..."
  • "Diese Vorwürfe sind falsch!"
  • "Nein. Wirklich nicht! Ich mache nichts, um zu provozieren."


Zu den Schwachpunkten des Interviews zählen nur folgende Antworten:

Frage: Antwort:
Es gibt Gerüchte, dass Sie im kleinen Kreis gesagt haben sollen. Sie könnten sich vorstellen, ohne einen Staatssekretär auskommen zu können. Ich habe das einmal scherzhaft in die Runde geworfen - vielleicht habe ich eine Form von Humor, die nicht alle verstehen. (Eine Magistratin müsste wissen, was humoristische Bemerkungen für Folgen haben können.)
Es hiess, das sei stypisch für Sie. Sie würden am liebsten alles alleine machen. Unbedingt. Alles ganz alleine (lacht) - als ob das überhaupt möglich wäre.


Diese Art des Übertreibens mittels eine ironischen Antwort kann kontraproduktiv sein. Ein Teil der Leserinnen und Leser wird diese Art von Humor nicht so verstehen, wie sie gemeint ist. Wir raten deshalb davon ab. In diesem Fall sind wir überzeugt, dass es Leser gibt, die tatsächlich glauben, die Bundesrätin habe bestätigt, alles ganz alleine zu machen.


Nachtrag vom 3. Mai, 2003: Von der "Public diplomacy" zur "Hidden diplomacy"?
Erstaunlicherweise war Aussenministerin Calmy-Rey am 25. April offensichtlich nicht mehr auf die vielgepriesene öffentliche Diplomatie erpicht. In einem Schreiben, das an einem eng begrenzen Adressatenkreis gerichtet war, machte die Bundesrätin in der EU- Frage einen unverhofften Rückzieher. Noch am 24. April verteidigte die Magistratin ihre akute Neigung zur öffentlichen Diplomatie und erklärte wortwörtlich:
"Die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU sind heute leider noch bilateraler Natur. Ich hoffe aber, dass ich sie in nicht allzu ferner Zukunft im multilateralen Zusammenhang diskutieren kann." Hierauf ergänzte sie: "Indem wir die bilateralen Beziehungen zur Europäischen Union intensivieren, können wir den Boden für den EU-Beitritt vorbereiten."


Diese öffentlich bekundete Äusserung hatte Folgen: Die SVP entnahm dieser Aussage ein klares Signal einer Salami-Taktik auf dem Weg in die EU. Die Aussenministerin habe das "skandalöse Doppelspiel, das der Bundesrat treibe", entlarvt. Auch die FDP hatte Bedenken: "Wenn Frau Calmy-Rey mit den bilateralen Verhandlungen den Boden für den EU Beitritt vorbereiten will, so entspricht dies nicht den bisherigen Aussagen des Gesamtbundesrates." Nach diesem Wirbel in der politischen Landschaft setzte die Bundesrätin am 25. April unverzüglich ein Schreiben auf und verfasste für einen kleinen Adressatenkreis die Präzisierung:

"Wir verhandlen nicht über bilaterale Abkommen, um den EU-Beitritt vorzubereiten. Die Verbesserung der Rahmenbedingungen ist kein Präjudiz für allfällige Beitrittsverhandlungen." Der Rückzug Calmy-Reys in den sicheren Schoss des Bundesrates wird auch aufgrund des folgenden Zitates deutlich: "Ich werde keinenfalls für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen plädieren, solange innenpolitisch keine breite Unterstützung für diese Etappe existiert."


Mit diesem an einen kleinen Kreis gerichtetem Präzisierungsbrief hielt sich Calmy-Rey bei der wichtigen Frage - wie es die Europafrage ist - nicht an ihre vielgepriesene "öffentlichen Diplomatie." Wenn "hidden diplomacy" nicht oppertun ist, so gewiss bei einer Frage von breitem öffentlichen Interesse. Wer deklariert, transparent zu informieren, dürfte nicht - mit zweideutigen Aussagen vor den Medien - die Öffenltichkeit irritieren. Beobachter äussserten sich jedenfalls erstaunt darüber, dass ausgerechnet bei einer so zentralen Frage plötzlich "hidden diplomacy" geübt wurde. Die Klarstellung mit dem Brief wurde hingegen begrüsst.

Bei allen Kommunikationsprozessen sind Missverständnisse nichts Aussergewöhnliches. Andersets lohnt sich vor öffentlichen Verlautbarungen: Lieber Sachverhalte klären und hernach reden oder informieren.


Nachtrag vom 11. Mai: Dilemma mit 200'000 Fr teurer Koreareise
Nachdem die Sonntagspresse die Kritik an Calmy-Reys Koreareise gross aufgemacht hatte, ist das EDA in einer unangenehmen Situation. Bundesrätin Calmy-Rey beabsichtigt am kommenden Donnerstag mit dem Bundesrat-Jet nach Nordkorea fliegen, um dort medienwirksam die Demarkationslinie zu Südkorea zu überschreiten. Wenn die berechneten Kosten von 200'000 Fr für den exklusiven Flug zutreffen, könnte die Bundesrätin zur teuersten Fliegerin in der Geschichte des Bundesrates aufsteigen. Sie würde hinsichtlich Kosten sogar den Spitzenreiter Adolf Ogi überfliegen. Angesichts des Spardrucks gab es harsche Kritik von verschiedensten Seiten:

Hans Rudolf Merz Aussenpolitiker Hans-Rudolf Merz (FDP) empörte sich: "Frau Calmy-Rey hat überhaupt keinen Grund, für fast eine Viertelmillion eine Reise zu erzwingen, die zu diesem Zeitpunkt nicht nötig ist!"
Phillipp Staehelin CVP Präsident Phillipp Stähelin wetterte: "Das ist angesichts des Spardrucks - unter dem wir leiden - ein miserables Signal", Man müsse sich ernsthaft fragen, was die Reise soll.
Ueli Maurer Nach Sonntagszeitung vom 11. März polterte SVP-Chef Ueli Maurer: "Das ist nur noch unglaubwürdig und ein verschwenderischer Umgang mit Steuergeldern." Entweder nehme die Bundesrätin den Linienflug oder verschiebe die Reise.


Die Bundesrätin und die EDA ist sich bewusst, dass diese Reise hinsichtlich Kosten durchaus eine "Schmerzgrenze" haben muss. Doch diese Grenze wurde noch nicht festgelegt.

Was für uns feststeht, ist die Bestätigung früherer Analysen. Calmy-Rey weiss was sie will und wird in ihrem Amt die Zähne zeigen. Dass Calmy-Rey Biss hat, hat dies mehrfach bewiesen. Auch in dieser Flugkosten- Frage werden wir die Reaktion der Bundesrätin miterleben können. Frau Calmy-Rey will die Reise durchführen. Selbst das Bundesratskollegium konnte die Aussenministerin nicht von ihren Plänen abbringen. Sie beharrt auf dem Vorhaben. "Schliesslich war das Treffen schon lange abgemacht."

Sagt die Aussenministerin die geplante Reise ab, so festigte sich damit Ihr Ruf als "Ankündigungsministerin". Setzt Sie sich durch und fliegt trotz der Kritik mit dem teuren Bundesrats-Jet (Businessjet kostet ca. 200'000 Fr. / Ein Linienflug ca. 45'000.-- Fr.), so geht die SP-Politikerin als teuerste Fliegerin in die Geschichte des Bundesrates ein.
Nachdem diese jüngste Geschichte ebenfalls in der Öffentlichkeit diskutiert wurde, interessiert es nun, zu erfahren, wie die Bundesrätin diese heikle Situation meistern wird. Was wir in unseren Kommentaren prognostiziert haben, bestätigt sich jedenfalls: Medien sind wertvolle Helfer, wenn es darum geht, der Bevölkerung Botschaften zu übermitteln. Doch sind es die nämlichen Medien, die schonungslose Kritik üben, wenn eine Ungereimtheit gefunden wird, die von öffentlichem Interesse ist. Nach dem Motto: "Unangenehme Geschichten verkaufen sich immer gut." Bundesrätin Calmy-Rey ist nicht die erste Magistratin, die jetzt beweisen kann, dass sich krisenähnliche Situationen meistern lassen.


Nachtrag vom 15. Mai: Reise angetreten
Calmy-Rey hat konsequent gehandelt und die Reise trotz Kritik durchgeführt. Sie ist am Freitag, dem 16. Mai in der nordkoreanischen Hauptstadt Pjongjang eingetroffen. Die fünfköpfige Delegation will auf der 10 tägigen Ostasienreise auf dem Landweg in den Süden weiterreisen. Neben den beiden Koreas wird auch China besucht werden. Nach NZZ muss der letzte Aufenthalt in der chinesischen Hauptstadt Peking gekürzt werden. Wegen drakonischen Einreisevorschriften die Nordkorea im Kampf gegen die Ausbreitung von Sars erlassen hat, musste die Delegation in einem Bundesrats-Jet mit zwei Zwischenlandungen direkt nach Nordkorea fliegen.




Nachtrag vom 18. Mai: Schweizer Geiseln wichtiger?
Nachdem der Aussenministerin nicht nur die Kosten der Riese vorgeworfen worden war, fanden einige Parlamentarier die Bundesrätin hätte besser nach Algerien fliegen sollen, damit dort die Schweizer Geiseln zu befreien, legte sich vorerst der Sturm im Wasserglas. Dann wurde die Kostenfrage wieder aktualisiert. Bei den Flugkosten zeigte sich nun im Nachhinein, dass Bundesrat Schmid die Vollkosten des Fluges doch voll verrechnen muss. (208'000 Fr.) Im Departement Calmy- Rey hingegen veranschlagte man die Kosten auf "nur" rund die Hälfte. Die humorvolle Aussage eines EDA Diplomaten (Zitat Sonntags-Zeitung) ist aus rhetorischer Sicht erwähnenswert.

"Wenn man mal 10 Tage lang von der Chefin in Ruhe gelassen wird, ist dies durchaus 200'000 Franken wert."




Nachtrag vom 20. Mai: Historischer Schritt der Aussenministerin
Das Überschreiten des 38. Breitengrates auf dem Landweg wurde zu einem symbolischen Akt von grosser Resonanz. Die internationale Presse von diese historischen "Schritt über die Grenze" Kenntnis. Der symbolische Akt war recht medienwirksam. Aus rhetorischer Sicht greifen wir zwei Aussagen der Bundesrätin heraus:
Der symbolische Akt macht bewusst, dass Linien und Grenzen überwindbar sind.

"Ein kleiner Schritt aber ein grosser Schritt für die Region-"


Damit bewies die neue Bundesrätin, dass sie das verwirklichen konnte, was angeküntigt worden war. Aller Kritik zum Trotz. Es zeigte sich: Die neutrale Schweiz hat in Nord- und Südkorea grosse Akzeptanz. Calmy-Rey betonte:

"Neutralität darf nicht mit Passivität gleichgesetzt werden."




Nachtrag vom 8. Juni, 2003: Duell Couchepin - Calmy-Rey

Es scheint, dass sich der Bundespräsident und die neue Bundesrätin immer wieder in den Medien duellieren. Als gehe es darum: Wer hat mehr Medienpräsenz? Nach dem G-8 Gipfel lobte der Bundespräsident das internationale Treffen in hohen Tönen. In der Westschweizer Sonntagszeitung "Le Matin Dimanche" kritisierte hingegen die Bundesratskollegin Calmy-Rey den Gipfel wie folgt:

Calmy-Ray
"Die G-8, das sind die Mächtigen der Welt, und es ist dieses Recht des Stärkeren, diese antidemokratische Seite, die mich stören."




Auf diese Verlautbarung drohten diplomatische Verwicklungen. Es folgte ein innenpolitischer Protest. Pascal Couchepin zog die Notbremse und konterte den Entwurf der Kollegin mit einem eigenen Papier.
Die Aussenministerin gab in diesem Fall klein bei und übernahm die Worte des Couchepin-Papiers. Der Waadtländer Nationalrat und Ex-Regierungsrat Claude Ruey bemerkte:

Claude Ruey
"Frau Calmy-Rey stellt sich immer wieder quer zur Haltung des Bundesrates. Einmal musste man sie stoppen!"


Dass die Spannung zwischen Calmy-Rey und Couchepin wächst, ist längst kein Geheimnis mehr. In beiden Departementen beschuldigt man sich gegenseitig (laut Sonntagszeitung vom 8. Juni). Wir vermuten, dass das Duell noch lange nicht abgeschlossen ist.


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