In der syrischen Stadt Chan Schaichun soll es ein Giftgas Angriff
gegeben haben. Die Kriegsparteien im Bürgerkrieg schieben sich
gegenseitig die Schuld in die Schuhe.
Spiegel:
Für jedes Geschehen auf der Welt existiert ein ausgelutschtes Zitat,
das zwar nichts bedeutet, aber dem Verwender das Gefühl vermittelt,
sich an der Debatte beteiligt zu haben. Deshalb sind Allerweltszitate
der Bauschaum der sozialen Medien, sie füllen die Freiräume
mit verpackter Luft. In Zeiten des Krieges ist das Zitatkrönchen der
Nichtsbedeutung vergeben, und zwar an das oft dem US-Senator Hiram Johnson
zugeschriebene Diktum: "Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit".
Aber so nichtssagend das Zitat scheint, wenn es von Ahnungslosen in
sozialen Medien verwendet wird, so interessant ist es gerade deshalb
aus Sicht der Manipulation der öffentlichen Meinung. Denn durch
und mit sozialen Medien verwandelt sich vor unseren Augen die uralte
Kriegstechnik der Propaganda.
Im Nordwesten von Syrien gab es einen Luftschlag, in dessen Folge 60
oder mehr Menschen offenbar an Giftgas gestorben sind. Das sind die mehr
oder weniger von allen Seiten beschriebenen Umstände des Geschehens.
Davon ausgehend gab es zwei unterschiedliche Varianten der näheren
Deutung, nämlich die westliche und die syrisch-russische.
Briten, Franzosen und die USA gehen davon aus, dass der syrische
Diktator Assad Giftgas eingesetzt hat. Assad bestreitet das ebenso wie
das russische Verteidigungsministerium. Hier beginnt der Wandel der
Propaganda durch soziale Medien, und um das zu verstehen, hilft es,
ein wenig ausholen.
Propaganda ist ein Teil der Kriegsführung per Information: der
Kampf um die Öffentlichkeit. Der Hintergrund ist eigentlich ein
Hoffnungszeichen, denn die öffentliche Meinung wird beeinflusst,
weil sie sehr mächtig ist. Das bedeutet aber auch, dass sich mit dem
Wandel der öffentlichen Meinung durch soziale Medien die Propaganda
ändern muss: Wir wohnen der Entstehung von Social Propaganda bei,
deren Wirkmechanismen nicht mehr (nur) auf die redaktionellen Medien
des 20. Jahrhunderts abgestimmt sind, sondern in erster Linie auf
soziale Medien. Also auf die redaktionslosen Plattformen, bei denen die
Verbreitung von Informationen in erster Linie nach emotionalen Kriterien
geschieht.
Das ist der Schlüssel der Entstehung von Social Propaganda - sie
ist viel stärker gefühlsbasiert. Und weil das Gefühl
sehr viel schneller gefasst wird als rationale Argumente, tritt das
Anscheinsprinzip in der Vordergrund: Wie sieht etwas auf den ersten Blick
aus? Der Kontext wird sehr viel weniger wichtig, denn in sozialen Medien
zählt in erster Linie der Moment, präziser das Gefühl
des Moments. Für Social Propaganda bedeutet das, dass sie sich
darauf konzentriert, ein Gefühl der Wahrheit zu erzeugen, das sich
zumindest dem ersten Anschein nach aufrechterhalten lässt.
Mit den sozialen Medien aber hat sich genau dieser erste Anschein
verändert. Früher wäre eine Möglichkeit der
Propaganda gewesen, einen Giftgasangriff schlicht zu leugnen. Alles
abzustreiten ist die simpelste Form der Propaganda. Mit der Allgegenwart
von Smartphone-Kameras und der kaum kontrollierbaren Möglichkeit,
darüber Filme, Fotos und Augenzeugenberichte zu teilen, hat das
Leugnen erschwert. Social Propaganda, also der Kampf um die gefühlte
Wahrheit geht sofort verloren, wenn eine Seite erklärt, es habe
gar keinen Giftgasangriff gegeben, aber Fotos und Videoclips erstickende
Menschen mit Schaum vor dem Mund zeigen.
Für den konkreten Fall in Syrien lohnt es, die Erklärung
der russischen Seite genauer zu betrachten. General-Major Igor
Konaschenkow, der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums,
veröffentlichte auf YouTube ein Statement, in dem er explizit
auf die grausigen Bilder und Filme in sozialen Medien Bezug nahm. Und
dann bietet er eine Erklärung an, die aus dem Lehrbuch der Social
Propaganda stammen könnte - denn sie passt zu den Bildern und
sie fühlt sich so logisch und sinnvoll an, dass man sie geradezu
glauben möchte: Der konventionelle Luftschlag der syrischen Armee
habe ein Munitionslager der Rebellen getroffen. Dieses habe sich auf dem
gleichen Gelände befunden wie eine Werkstatt für Landminen,
die mit giftigen Substanzen vollgestopft seien.
Der Kontrast zwischen klassischer Propaganda und Social Propaganda wird
noch deutlicher, wenn man die syrische Reaktion dagegenhält: "Wir
haben weder in der Vergangenheit noch aktuell Giftgas eingesetzt!" -
im Vordergrund steht das klassische Dementi. Der YouTube-Film des
Generalmajors aber stellt eine Erklärung in den Vordergrund, die
stimmen könnte.
Das ist die Essenz der Social Propaganda: das Angebot von einfachen,
gut weitererzählbaren Erklärungen, die auf den ersten,
sozialmedialen Blick irgendwie stimmen könnten, die passgenau in den
Anschein eingefügt sind, der über soziale Medien entsteht. Dabei
ist gar nicht so wichtig, dass Social Propaganda perfekt stimmig ist. Es
geht um das erste Gefühl - hmmm, könnte ja wirklich sein.
Und es könnte ja wirklich sein, dass genau hier kein Giftgasangriff
stattfand, sondern ein konventioneller Angriff mit schlimmen Folgen.
Vielleicht werden unabhängige Recherchen die Wahrheit zeigen, aber
bei Social Propaganda geht es nicht um das tatsächliche Geschehen,
denn Propaganda arbeitet vollständig wahrheitsunabhängig.
Stattdessen geht es um den zielgerichteten Umgang mit den bekannten, auf
den ersten Blick in sozialen Medien erahnbaren Umständen. Daher
ist der russische Erklärungsansatz auch kein Beweis für
oder gegen das tatsächliche Geschehen, sondern steht allein
für die Kommunikationsstrategie des Kreml. Dafür allerdings
mustergültig.
Die Reaktionen auf das YouTube-Video zeigen, wie gut die Strategie
aufgeht: die westlichen Medienberichte von BBC bis "The Guardian"
werden ihrerseits als Umdeutung bezeichnet, wo ein bedauerlicher Unfall
verwandelt wird in einen Angriff.
Dass dahinter eine auf soziale Medien abzielende Strategie
steht, lässt sich bereits am Ort erkennen, den das russische
Verteidigungsministerium für die Veröffentlichung des Statements
gewählt hat: den YouTube-Kanal von ruptly, des Social-Media-Ablegers
von Russia Today. Russia Today wird direkt vom Kreml finanziert und
hat eine offen daliegende, unbestrittene Aufgabe: die Verbreitung der
russischen Sichtweise. Russia Today ist Content Marketing für Putin,
ohne Umwege vom russischen Staat bezahlt. Weshalb es so verstörend
ist, dass derart viele Leute Russia Today für ein unparteiisches
und nach journalistischen Kriterien berichtendes Medium halten.
Der Slogan von RT lautet: "Question more". Er schlägt perfekt
die Brücke zwischen den neuen Formen der Social Propaganda -
und dem Eingangszitat. Die gefühlte Wahrheit nach dem Muster
der Social Propaganda hat nämlich gar nicht die Aufgabe, die
Öffentlichkeit endgültig zu überzeugen. Vielmehr soll sie
die Öffentlichkeit an allem ständig zweifeln lassen. Und es
nicht gerade so, als hätten die westlichen Ausprägungen von
Politik und Propaganda der letzten Jahre diese Aufgabe besonders schwer
gemacht: von den ausgedachten irakischen Massenvernichtungswaffen bis
zu den Enthüllungen von Snowden. Das ist der Ansatzpunkt für
Social Propaganda, nicht nur punktuell zu zweifeln - sondern an allem. Aus
einzelnen, nachweislich vorhandenen Lügen und Fehlern zu schliessen,
dass alles gelogen und falsch sei.
Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit, sagt der
Social-Media-Volksmund, auf den Social Propaganda zielt. Wenn aber die
Wahrheit von Anfang an für tot erklärt wird, dann muss man nicht
mehr nach ihr suchen, dann gibt es nur noch gleichberechtigte Deutungen
des Geschehens. Dann ist die Realität nur noch eine Meinung.
Das ist Social Propaganda: Zweifel säen durch gefühlt
mögliche Deutungen, die zum Social-Media-Echo passen, weil nichts
die machtvolle Öffentlichkeit mehr lähmt als Zweifel. Wenn man
alles nicht so genau weiss, ist das Sinnvollste, nichts zu tun. Sich nicht
festzulegen. Keinen Druck aufzubauen. Die Dinge geschehen lassen. Wer kann
schon sagen, was passiert ist? Es könnte doch alles ein schrecklicher
Unfall gewesen sein.
20 Min:
Über 70 Menschen sind an den Folgen eines Giftgas-Einsatzes - oder
-Unfalls - in der syrischen Stadt Chan Scheichun gestorben. Beobachter vor
Ort gehen davon aus, dass die Opferzahl in den kommenden Tagen noch weiter
ansteigen wird. Nach den Luftangriffen, die laut Augenzeugenberichten von
Kampfjets der syrischen Armee geflogen wurden, weisen sich die syrische
Regierung, die Rebellen sowie Russland, die USA und Europa gegenseitig
die Verantwortung für den mutmasslichen Chemiewaffeneinsatz zu.
Bildstrecken Der festgefahrene Syrien-Konflikt
Die US-Regierung hat Russland und dem Iran eine Mitverantwortung
für den mutmasslichen Giftgasangriff im Nordwesten Syriens
geben. "Als selbsterklärte Garanten des in Astana verhandelten
Waffenstillstands tragen Russland und der Iran eine grosse moralische
Verantwortung für diese Toten", erklärte Aussenminister
Rex Tillerson am Dienstag. Er rief die beiden Länder dazu auf,
ihren Einfluss auf die syrische Führung geltend zu machen und
"zu garantieren, dass so ein schrecklicher Angriff nie wieder passiert".
Tillerson sagte, der Angriff zeige, wie der syrische Staatschef Bashar
al-Assad vorgehe - "mit brutaler, ungenierter Barbarei". "Diejenigen,
die ihn verteidigen und unterstützen, darunter Russland und Iran,
sollten keine Illusionen hinsichtlich Assad und seine Absichten haben",
fügte der Aussenminister hinzu. Zuvor hatte US-Präsident Donald
Trump in einer eigenen Erklärung Assad direkt für den Angriff
verantwortlich gemacht.
Die russischen Streitkräfte haben jegliche Verantwortung für
den mutmasslichen Giftgas-Angriff in Syrien zurückgewiesen. In
der betroffenen Region um die Stadt Chan Scheichun habe die
russische Luftwaffe keinerlei Bombenangriffe geflogen, teilte das
Verteidigungsministerium in Moskau mit. Russland hat die syrischen
Regierungstruppen für den Luftangriff auf die Stadt Chan Scheichun
im Nordwesten des Landes verantwortlich gemacht.
Die syrische Luftwaffe habe bei dem Angriff ein von Rebellen genutztes
Lager mit Giftstoffen getroffen, teilte das Verteidigungsministerium
in Moskau am Mittwoch mit. Aus "objektiven Daten" der russischen
Luftraumkontrolle gehe hervor, dass ein "grosses Lager von Terroristen"
in der Nähe der Stadt bombardiert worden sei. Dort seien "Giftstoffe"
gelagert worden.
Die Rebellen machten ihrerseits die Streitkräfte von Machthaber
Bashar al-Assad für den Angriff verantwortlich und kündigten
Racheaktionen an. "Wir rufen alle Kämpfer in Syrien auf,
die Fronten in Flammen aufgehen zu lassen", erklärte das
Bündnis Tahrir-al-Scham in einer im Internet veröffentlichten
Erklärung. Es werde eine Rache geben, "die das Herz unseres Volks in
Chan Scheichun im Besonderen und in Syrien im Allgemeinen besänftigen
wird", hiess es in der Mitteilung weiter.
Die syrische Armee wiederum wies jegliche Verantwortung "kategorisch"
zurück. Sie habe niemals Giftgas eingesetzt und werde dies
auch künftig nicht tun. Vielmehr seien "terroristische Gruppen"
verantwortlich.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO geht davon aus, dass bei dem
Vorfall Nervenkampfstoff freigesetzt wurde. Die Opfer zeigten typische
Symptome, die beim Kontakt mit Chemiewaffen auftreten. Bei einigen
Opfern deuten die Symptome demnach auf den Einsatz "phosphororganischer
Chemikalien" hin, zu denen auch die sogenannten Nervenkampfstoffe wie
Saringas gehören. Für den Einsatz von Chemiewaffen spricht
nach Angaben der WHO auch, dass die Opfer keine äusserlichen
Verletzungen aufwiesen. Stattdessen seien bei den Betroffenen schnell
ähnliche Symptome aufgetreten. Die häufigste Todesursache sei
akute Atemnot gewesen.
UNO-Generalsekretär António Guterres hat die Verfolgung
von "Kriegsverbrechen" im Konflikt gefordert. "Die schrecklichen
Ereignisse von Dienstag zeigen unglücklicherweise, dass es weiter
Kriegsverbrechen in Syrien gibt", sagte Guterres bei der internationalen
Syrien-Konferenz. Der Angriff müsse von der Organisation für
das Verbot chemischer Waffen (OPCW) aufgeklärt werden.
Das OPCW hat bereits erklärt, es sammle Informationen, ob chemische
Kampfstoffe bei dem Angriff in der Provinz Idlib eingesetzt worden
seien. Die OPCW war im vergangenen Jahr in einer gemeinsamen Untersuchung
mit der UNO zum Schluss gekommen, dass die syrische Regierung bei
mindestens drei Angriffen auf syrische Dörfer in den Jahren 2014
und 2015 Chemiewaffen eingesetzt hatte.