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www.rhetorik.ch aktuell: (05. Apr, 2017)

Giftgas in Syrien

Rhetorik.ch Artikel zum Thema:
In der syrischen Stadt Chan Schaichun soll es ein Giftgas Angriff gegeben haben. Die Kriegsparteien im Bürgerkrieg schieben sich gegenseitig die Schuld in die Schuhe.

Spiegel:
Für jedes Geschehen auf der Welt existiert ein ausgelutschtes Zitat, das zwar nichts bedeutet, aber dem Verwender das Gefühl vermittelt, sich an der Debatte beteiligt zu haben. Deshalb sind Allerweltszitate der Bauschaum der sozialen Medien, sie füllen die Freiräume mit verpackter Luft. In Zeiten des Krieges ist das Zitatkrönchen der Nichtsbedeutung vergeben, und zwar an das oft dem US-Senator Hiram Johnson zugeschriebene Diktum: "Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit". Aber so nichtssagend das Zitat scheint, wenn es von Ahnungslosen in sozialen Medien verwendet wird, so interessant ist es gerade deshalb aus Sicht der Manipulation der öffentlichen Meinung. Denn durch und mit sozialen Medien verwandelt sich vor unseren Augen die uralte Kriegstechnik der Propaganda. Im Nordwesten von Syrien gab es einen Luftschlag, in dessen Folge 60 oder mehr Menschen offenbar an Giftgas gestorben sind. Das sind die mehr oder weniger von allen Seiten beschriebenen Umstände des Geschehens. Davon ausgehend gab es zwei unterschiedliche Varianten der näheren Deutung, nämlich die westliche und die syrisch-russische. Briten, Franzosen und die USA gehen davon aus, dass der syrische Diktator Assad Giftgas eingesetzt hat. Assad bestreitet das ebenso wie das russische Verteidigungsministerium. Hier beginnt der Wandel der Propaganda durch soziale Medien, und um das zu verstehen, hilft es, ein wenig ausholen. Propaganda ist ein Teil der Kriegsführung per Information: der Kampf um die Öffentlichkeit. Der Hintergrund ist eigentlich ein Hoffnungszeichen, denn die öffentliche Meinung wird beeinflusst, weil sie sehr mächtig ist. Das bedeutet aber auch, dass sich mit dem Wandel der öffentlichen Meinung durch soziale Medien die Propaganda ändern muss: Wir wohnen der Entstehung von Social Propaganda bei, deren Wirkmechanismen nicht mehr (nur) auf die redaktionellen Medien des 20. Jahrhunderts abgestimmt sind, sondern in erster Linie auf soziale Medien. Also auf die redaktionslosen Plattformen, bei denen die Verbreitung von Informationen in erster Linie nach emotionalen Kriterien geschieht. Das ist der Schlüssel der Entstehung von Social Propaganda - sie ist viel stärker gefühlsbasiert. Und weil das Gefühl sehr viel schneller gefasst wird als rationale Argumente, tritt das Anscheinsprinzip in der Vordergrund: Wie sieht etwas auf den ersten Blick aus? Der Kontext wird sehr viel weniger wichtig, denn in sozialen Medien zählt in erster Linie der Moment, präziser das Gefühl des Moments. Für Social Propaganda bedeutet das, dass sie sich darauf konzentriert, ein Gefühl der Wahrheit zu erzeugen, das sich zumindest dem ersten Anschein nach aufrechterhalten lässt. Mit den sozialen Medien aber hat sich genau dieser erste Anschein verändert. Früher wäre eine Möglichkeit der Propaganda gewesen, einen Giftgasangriff schlicht zu leugnen. Alles abzustreiten ist die simpelste Form der Propaganda. Mit der Allgegenwart von Smartphone-Kameras und der kaum kontrollierbaren Möglichkeit, darüber Filme, Fotos und Augenzeugenberichte zu teilen, hat das Leugnen erschwert. Social Propaganda, also der Kampf um die gefühlte Wahrheit geht sofort verloren, wenn eine Seite erklärt, es habe gar keinen Giftgasangriff gegeben, aber Fotos und Videoclips erstickende Menschen mit Schaum vor dem Mund zeigen. Für den konkreten Fall in Syrien lohnt es, die Erklärung der russischen Seite genauer zu betrachten. General-Major Igor Konaschenkow, der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, veröffentlichte auf YouTube ein Statement, in dem er explizit auf die grausigen Bilder und Filme in sozialen Medien Bezug nahm. Und dann bietet er eine Erklärung an, die aus dem Lehrbuch der Social Propaganda stammen könnte - denn sie passt zu den Bildern und sie fühlt sich so logisch und sinnvoll an, dass man sie geradezu glauben möchte: Der konventionelle Luftschlag der syrischen Armee habe ein Munitionslager der Rebellen getroffen. Dieses habe sich auf dem gleichen Gelände befunden wie eine Werkstatt für Landminen, die mit giftigen Substanzen vollgestopft seien. Der Kontrast zwischen klassischer Propaganda und Social Propaganda wird noch deutlicher, wenn man die syrische Reaktion dagegenhält: "Wir haben weder in der Vergangenheit noch aktuell Giftgas eingesetzt!" - im Vordergrund steht das klassische Dementi. Der YouTube-Film des Generalmajors aber stellt eine Erklärung in den Vordergrund, die stimmen könnte. Das ist die Essenz der Social Propaganda: das Angebot von einfachen, gut weitererzählbaren Erklärungen, die auf den ersten, sozialmedialen Blick irgendwie stimmen könnten, die passgenau in den Anschein eingefügt sind, der über soziale Medien entsteht. Dabei ist gar nicht so wichtig, dass Social Propaganda perfekt stimmig ist. Es geht um das erste Gefühl - hmmm, könnte ja wirklich sein. Und es könnte ja wirklich sein, dass genau hier kein Giftgasangriff stattfand, sondern ein konventioneller Angriff mit schlimmen Folgen. Vielleicht werden unabhängige Recherchen die Wahrheit zeigen, aber bei Social Propaganda geht es nicht um das tatsächliche Geschehen, denn Propaganda arbeitet vollständig wahrheitsunabhängig. Stattdessen geht es um den zielgerichteten Umgang mit den bekannten, auf den ersten Blick in sozialen Medien erahnbaren Umständen. Daher ist der russische Erklärungsansatz auch kein Beweis für oder gegen das tatsächliche Geschehen, sondern steht allein für die Kommunikationsstrategie des Kreml. Dafür allerdings mustergültig. Die Reaktionen auf das YouTube-Video zeigen, wie gut die Strategie aufgeht: die westlichen Medienberichte von BBC bis "The Guardian" werden ihrerseits als Umdeutung bezeichnet, wo ein bedauerlicher Unfall verwandelt wird in einen Angriff. Dass dahinter eine auf soziale Medien abzielende Strategie steht, lässt sich bereits am Ort erkennen, den das russische Verteidigungsministerium für die Veröffentlichung des Statements gewählt hat: den YouTube-Kanal von ruptly, des Social-Media-Ablegers von Russia Today. Russia Today wird direkt vom Kreml finanziert und hat eine offen daliegende, unbestrittene Aufgabe: die Verbreitung der russischen Sichtweise. Russia Today ist Content Marketing für Putin, ohne Umwege vom russischen Staat bezahlt. Weshalb es so verstörend ist, dass derart viele Leute Russia Today für ein unparteiisches und nach journalistischen Kriterien berichtendes Medium halten. Der Slogan von RT lautet: "Question more". Er schlägt perfekt die Brücke zwischen den neuen Formen der Social Propaganda - und dem Eingangszitat. Die gefühlte Wahrheit nach dem Muster der Social Propaganda hat nämlich gar nicht die Aufgabe, die Öffentlichkeit endgültig zu überzeugen. Vielmehr soll sie die Öffentlichkeit an allem ständig zweifeln lassen. Und es nicht gerade so, als hätten die westlichen Ausprägungen von Politik und Propaganda der letzten Jahre diese Aufgabe besonders schwer gemacht: von den ausgedachten irakischen Massenvernichtungswaffen bis zu den Enthüllungen von Snowden. Das ist der Ansatzpunkt für Social Propaganda, nicht nur punktuell zu zweifeln - sondern an allem. Aus einzelnen, nachweislich vorhandenen Lügen und Fehlern zu schliessen, dass alles gelogen und falsch sei. Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit, sagt der Social-Media-Volksmund, auf den Social Propaganda zielt. Wenn aber die Wahrheit von Anfang an für tot erklärt wird, dann muss man nicht mehr nach ihr suchen, dann gibt es nur noch gleichberechtigte Deutungen des Geschehens. Dann ist die Realität nur noch eine Meinung. Das ist Social Propaganda: Zweifel säen durch gefühlt mögliche Deutungen, die zum Social-Media-Echo passen, weil nichts die machtvolle Öffentlichkeit mehr lähmt als Zweifel. Wenn man alles nicht so genau weiss, ist das Sinnvollste, nichts zu tun. Sich nicht festzulegen. Keinen Druck aufzubauen. Die Dinge geschehen lassen. Wer kann schon sagen, was passiert ist? Es könnte doch alles ein schrecklicher Unfall gewesen sein.
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Über 70 Menschen sind an den Folgen eines Giftgas-Einsatzes - oder -Unfalls - in der syrischen Stadt Chan Scheichun gestorben. Beobachter vor Ort gehen davon aus, dass die Opferzahl in den kommenden Tagen noch weiter ansteigen wird. Nach den Luftangriffen, die laut Augenzeugenberichten von Kampfjets der syrischen Armee geflogen wurden, weisen sich die syrische Regierung, die Rebellen sowie Russland, die USA und Europa gegenseitig die Verantwortung für den mutmasslichen Chemiewaffeneinsatz zu. Bildstrecken Der festgefahrene Syrien-Konflikt Die US-Regierung hat Russland und dem Iran eine Mitverantwortung für den mutmasslichen Giftgasangriff im Nordwesten Syriens geben. "Als selbsterklärte Garanten des in Astana verhandelten Waffenstillstands tragen Russland und der Iran eine grosse moralische Verantwortung für diese Toten", erklärte Aussenminister Rex Tillerson am Dienstag. Er rief die beiden Länder dazu auf, ihren Einfluss auf die syrische Führung geltend zu machen und "zu garantieren, dass so ein schrecklicher Angriff nie wieder passiert". Tillerson sagte, der Angriff zeige, wie der syrische Staatschef Bashar al-Assad vorgehe - "mit brutaler, ungenierter Barbarei". "Diejenigen, die ihn verteidigen und unterstützen, darunter Russland und Iran, sollten keine Illusionen hinsichtlich Assad und seine Absichten haben", fügte der Aussenminister hinzu. Zuvor hatte US-Präsident Donald Trump in einer eigenen Erklärung Assad direkt für den Angriff verantwortlich gemacht. Die russischen Streitkräfte haben jegliche Verantwortung für den mutmasslichen Giftgas-Angriff in Syrien zurückgewiesen. In der betroffenen Region um die Stadt Chan Scheichun habe die russische Luftwaffe keinerlei Bombenangriffe geflogen, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau mit. Russland hat die syrischen Regierungstruppen für den Luftangriff auf die Stadt Chan Scheichun im Nordwesten des Landes verantwortlich gemacht. Die syrische Luftwaffe habe bei dem Angriff ein von Rebellen genutztes Lager mit Giftstoffen getroffen, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau am Mittwoch mit. Aus "objektiven Daten" der russischen Luftraumkontrolle gehe hervor, dass ein "grosses Lager von Terroristen" in der Nähe der Stadt bombardiert worden sei. Dort seien "Giftstoffe" gelagert worden. Die Rebellen machten ihrerseits die Streitkräfte von Machthaber Bashar al-Assad für den Angriff verantwortlich und kündigten Racheaktionen an. "Wir rufen alle Kämpfer in Syrien auf, die Fronten in Flammen aufgehen zu lassen", erklärte das Bündnis Tahrir-al-Scham in einer im Internet veröffentlichten Erklärung. Es werde eine Rache geben, "die das Herz unseres Volks in Chan Scheichun im Besonderen und in Syrien im Allgemeinen besänftigen wird", hiess es in der Mitteilung weiter. Die syrische Armee wiederum wies jegliche Verantwortung "kategorisch" zurück. Sie habe niemals Giftgas eingesetzt und werde dies auch künftig nicht tun. Vielmehr seien "terroristische Gruppen" verantwortlich. Die Weltgesundheitsorganisation WHO geht davon aus, dass bei dem Vorfall Nervenkampfstoff freigesetzt wurde. Die Opfer zeigten typische Symptome, die beim Kontakt mit Chemiewaffen auftreten. Bei einigen Opfern deuten die Symptome demnach auf den Einsatz "phosphororganischer Chemikalien" hin, zu denen auch die sogenannten Nervenkampfstoffe wie Saringas gehören. Für den Einsatz von Chemiewaffen spricht nach Angaben der WHO auch, dass die Opfer keine äusserlichen Verletzungen aufwiesen. Stattdessen seien bei den Betroffenen schnell ähnliche Symptome aufgetreten. Die häufigste Todesursache sei akute Atemnot gewesen. UNO-Generalsekretär António Guterres hat die Verfolgung von "Kriegsverbrechen" im Konflikt gefordert. "Die schrecklichen Ereignisse von Dienstag zeigen unglücklicherweise, dass es weiter Kriegsverbrechen in Syrien gibt", sagte Guterres bei der internationalen Syrien-Konferenz. Der Angriff müsse von der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) aufgeklärt werden. Das OPCW hat bereits erklärt, es sammle Informationen, ob chemische Kampfstoffe bei dem Angriff in der Provinz Idlib eingesetzt worden seien. Die OPCW war im vergangenen Jahr in einer gemeinsamen Untersuchung mit der UNO zum Schluss gekommen, dass die syrische Regierung bei mindestens drei Angriffen auf syrische Dörfer in den Jahren 2014 und 2015 Chemiewaffen eingesetzt hatte.

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