Der Schriftsteller Karl-Heinz Ott schreibt in der
NZZ
über das Wort Postfaktisch:
Postfaktisch" Die Erklärung eines Schimpfworts von Karl-Heinz Ott
9.12.2016, 12:58 Uhr Gerade wurde "postfaktisch" zum Wort des Jahres
erkoren. Doch was meint das Wort denn eigentlich? Und gibt es die
reinen Fakten überhaupt, von denen die Populisten der Gegenwart
sich verabschiedet haben sollen?
Was sehen wir, wenn wir die Wahrheit zu sehen glauben? Wohin wir schauen,
immer ist unsere Erkenntnis von Interessen gesteuert und darum immer schon
post- oder gar präfaktisch. (Bild: Salvatore Di Nolfi / Keystone)
Was sehen wir, wenn wir die Wahrheit zu sehen glauben? Wohin wir schauen,
immer ist unsere Erkenntnis von Interessen gesteuert und darum immer schon
post- oder gar präfaktisch.
Es sind schon alle möglichen Post-Epochen ausgerufen worden, die
Postmoderne, die Postdramatik, der Postfeminismus und dergleichen mehr.
Seit jüngstem ist nun vom Postfaktischen die Rede, nur dass man
damit im Unterschied zu allen früheren Post-Proklamationen nichts
Wünschenswertes meint.
"Postfaktisch" ist ein Schimpfwort, das auf politische Hasardeure zielt,
die sich nicht mehr an Tatsachen orientieren wollen und bloss noch auf
Stimmung setzen. Es zielt auf jene populistischen Bewegungen, die in
Europa mittlerweile ein immenses Feld abstecken und in Amerika gerade
an die Macht gelangen.
(...)
Auch fischen wir in aller Regel lieber nach Informationen, die unsere
Weltsicht stützen, als nach solchen, die sie ins Wanken bringen. Was
keineswegs gegen die Wissenschaften spricht, jedoch heisst, dass wir
viel religiöser sind, als wir glauben.
Heute verlaufen die politischen Trennlinien nicht zwischen
Faktengläubigkeit und postfaktischer Chuzpe, sondern zwischen
Lebensvorstellungen, die man für richtig hält, und solchen,
die man bekämpft. Es geht um Standpunkte, Blickwinkel und
Glaubenshaltungen.
Würden Politiker lediglich auf Fakten setzen, könnten sie
keinen einzigen Wahlkampf gewinnen.