Wieder eine Protestwahl gegen das Establishment:
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Das Resultat der Bundespräsidentenwahl in Österreich war
sehr viel schneller bekannt, als man angenommen hatte. Sind Sie
überrascht?
In dieser Höhe ist das definitiv überraschend. Ich glaube,
dass die Österreicher hier mit Vernunft gewählt haben. Ich
denke, es war ganz entscheidend, dass Norbert Hofer bei der letzten
TV-Debatte ein sehr aggressives Gesicht gezeigt hatte. Ein Gesicht,
das seiner politischen Ideologie und Meinung entsprochen hat. Das
wollten die Österreicher nicht akzeptieren. Und es war auch eine
Quittung für das Vorgehen der FPÖ in den letzten Monaten.
InfoboxGilbert Casasus ist Direktor des Zentrums für Europastudien
an der Universität Freiburg.
Nach der Wahl Donald Trumps schien der Populismus auf dem Vormarsch. War
hier ein Anti-Trump-Effekt zu spüren?
Da muss man vorsichtig sein. Man kann das Geschehen in den USA nicht eins
zu eins auf Europa übertragen. Aber nach dem Brexit und der Wahl
Trumps hat es wohl schon einen Gegeneffekt gegeben. Gut möglich,
dass ein Umdenken - wenn auch erst ganz klein - eingesetzt hat, dass
das europäische Modell gar nicht so schlecht ist. Es gibt zwar
eine Krise der Demokratie in Europa aber der Weg von Trump und anderen
Populisten ist noch viel schlechter.
Nun stehen Wahlen in Frankreich und Deutschland bevor. Taugt diese Wahl
in Österreich als Stimmungsbarometer dafür?
Stimmungsbarometer geht vielleicht etwas zu weit. Aber es ist eine
Indizwahl. In Frankreich und Deutschland wurde die Wahl sicher sehr
genau verfolgt und analysiert. Die Wahl von van der Bellen wird den
gemässigten Kräften in beiden Ländern sicher Auftrieb
geben.
Kann die EU nach diesem Resultat aufatmen?
Ein Aufatmen würde ich das nicht nennen. Vielleicht ein kleines
Durchschnaufen im Sinne von: "So schlimm, wie man befürchtet hat,
ist es nicht gekommen." Aber EU-Politiker sind sicher gut beraten, daraus
jetzt nicht zu grosse Schlussfolgerungen ziehen zu wollen. Die Wahl Trumps
hat Hofer nicht begünstigt und genauso wenig wird die Wahl van der
Bellens jemanden in Frankreich oder Deutschland begünstigen. Aber
es ist sicher ein gutes Zeichen für die europäische Demokratie.
In den Umfragen lag zuletzt Norbert Hofer immer knapp vorne. Wie
zuletzt auch in anderen Ländern, ist das Resultat an der Urne ein
anderes. Woher kommt diese Häufung?
Die Wähler in Europa akzeptieren es nicht mehr, dass man ihnen schon
vor der Wahl oder Abstimmung quasi das Resultat bekannt gibt. Sie sagen:
"Wir lassen uns nicht von Medien oder Umfragen sagen, wie wir abzustimmen
haben und machen erst recht das Gegenteil." Die Bürger lassen ihre
Entscheidung nicht mehr von Umfragen beeinflussen.
Das Amt des Bundespräsidenten hat sehr beschränkte politische
Möglichkeiten. Wird sich überhaupt etwas ändern an der
Politik in Österreich?
Es hat sich seit Mai bis heute schon etwas geändert. Die Menschen
haben realisiert, dass van der Bellen das liberale, pluralistische,
demokratische Österreich verkörpert. Nur so konnte er drei
Prozentpunkte dazu gewinnen. Die Wahl zeigt das Bedürfnis nach
etwas Neuem. Es ist eine Protestwahl gegen die grosse Koalition, gegen
die etablierten Parteien. Es ist aber auch die Wahl der Vernunft. Van
der Bellen ist beides: neu und vernünftig. Es zeigt, dass sich die
politischen Verhältnisse, die bisher einfach durch links-rechts
definiert waren, entscheidend verändern. Es ist ein politisches
Erdbeben im Gang.
Es gab am Wahltag einige Ungereimtheiten in Österreich. Was sagt
das über das Land aus?
Das gehört zu den Aspekten der schlechten Art und Weise, wie
in Österreich zuletzt Politik gemacht wurde. Diese Art, wie in
den letzten Jahren politisiert wurde, ist heute bestraft worden. Die
Leute sind nicht mehr bereit jeden Quatsch zu glauben. Man kann dem
österreichischen Wahlvolk heute ein grosses Lob aussprechen. Dass
die Aggressivität Hofers bestraft wurde, ist ein Zeichen politischer
Reife.