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www.rhetorik.ch aktuell: (29. Mai, 2016)

Auf die Auswahl kommt es an

Rhetorik.ch Artikel zum Thema:
In der Sonntagszeitung ist ein Interview mit Juraj Hromkovic über Mathematik unterricht. Die Schlagzeile "The Mathe Unterricht ist unfair" ist etwas reisserisch und macht nur einen Teil des Interviews aus. Überhaupt muss man sich fragen, was ein Informatiklehrer über Matheunterricht zu sagen hat. Das wäre wie wenn ein Chemielehrer über Verbesserungen zum Physikunterricht gefragt wird. Informatik und Mathematik sind zwar verwandt und vernetzt, sind jedoch ganz verschiedene Dinge. Nicht dass der Gefragte nicht qualifiziert ist, man hätte fairerweise einen aktiven Mathematiklehrer fragen müssen, der die Sache aus erster Hand kennt.

Auch das herablassende Gedanken gegen das prozedurale Lernen von Algorithmen wie dem Lösen von Gleichungen sind etwas komisch, vor allem wenn es von einem Informatiker kommt. Algorithmen sind ein integraler Anteil von Mathematik. Wer Gleichungen nicht lösen kann, der ist auch bei interessanteren Themen verloren. Hromkovic bemerkt richtig, dass Prüfungsmaterial fair und erreichbar sein sollen. Beim Assessment von Lehrstoff sind aber gerade das Wissen und das Beherrschen von prozedurale Methoden einfach zu testen. Das Testen von Konzepten ist viel schwieriger, damit es nicht unfair ist.

Hromkovic erwähnt auch die PISA Studie: "Gemäss Pisa-Studie sind die 15-Jähri­gen in der Schweiz Weltspitze in Mathematik". Warum also wird dann die Kritik in den Vordergrund gestellt? Die Journalistin Simone Luchetta (oder die Sonntagszeitung) hat es vorgezogen, dem Artikel einen reisserischen Titel zu geben. Das verkauft sich sicher besser. Der Titel des Interviews hätte aber auch viel positiver sein können:

Schweizer Teens sind Weltspitze in Mathe!



Das Kompliment geht aber nicht nur den Studenten, sondern auch an die Lehrer und die Lehrmethoden, die so schlecht gar nicht sein können. Dieser Inhalt wurde im Interview auch vermittelt und mit ähnlichem Gewicht. Aber es kommt aber eben immer auch auf die Auswahl an.

Bildungsminister Johann SchneiderAmmann forderte
kürzlich höhere Ansprüche in Mathematik an
der Matura. Zu Recht?

Ja. Aber man kann den Druck nicht verschärfen, wenn bereits 40
Prozent der Abgänger schriftlich in Mathe durchfällt. Das
geht nur, wenn man das ganze System qualitativ verbessert.

Sind unsere Maturanden zu dumm oder die Aufgaben zu schwierig?

Gemäss PisaStudie sind die 15Jährigen in der Schweiz
Weltspitze in Mathematik. Sie können also nicht dumm sein.
Sicher gehören unsere Maturitätsansprüche
in Mathe zu den höchsten der Welt. Aber die sollten wir
nicht runterschrauben.

Was ist dann Ihrer Meinung nach der Grund für die hohe
Durchfallquote?

Es gibt zwei Gründe. Zum einen hat das Fach Mathematik
bei der Maturreform 1995 an Gewicht verloren. Seither kann
man die Mathenote durch andere Fächer kompensieren. Da
würde ich mir etwas mehr Druck wünschen.

Und was ist der zweite Grund?

Da geht es um Fairness. Es gilt abzuklären, wie fair ein
Unterricht ist, wenn die Durchfallquote so hoch ist.

Was meinen Sie mit fair?

Ein Unterrichtsangebot ist fair, wenn die Lehrperson
die Zielsetzungen genau formuliert und den Schülern
einen gangbaren Weg aufzeigt, wie sie das Ziel erreichen
können. Unfair hingegen ist das Angebot dann, wenn die
Zielsetzungen nicht genau spezifiziert und Prüfungen
Überraschungen sind und wenn der Weg zur Erreichung
des Erwarteten nicht gut genug gestaltet ist. Dann ist die
Garantie, dass man durch intensives Training das Ziel erreicht,
nicht vorhanden.

Sie sagen, wir haben schlechte MatheLehrer?

Ich kenne viele supergute Lehrpersonen, die ihre
Schüler mit Mathe begeistern. Aber die Statistik zeigt
auch, dass wir einen hohen Anteil unfairer Angebote auf dem
Markt haben, ja.

Das ist eine mutige These.

Wir reden schon seit 20 Jahren über das Problem Mathe
an der Matur, aber nur darüber reden allein genügt
nicht. Jetzt muss sich etwas ändern.

Und wie wollen Sie etwas ändern?

Ich sehe zwei Wege. Erstens, einen fairen Unterricht
zu gestalten, zweitens, Mathematik attraktiver und
realitätsbezogener zu unterrichten. Der erste Punkt
ist didaktischer, der zweite fachlicher Natur.

Wie gestaltet man denn einen fairen Unterricht?

Das Ziel soll es sein, die hohen Leistungsansprüche zu
erhalten. Aber man kann nicht ein Ziel setzen und dazu ein
Training anleiten, das bei weitem nicht reicht, um das Ziel
zu erfüllen.

Sie verstehen Lehrer als Trainer.

Ja, die Lehrperson trägt die Verantwortung, dass die
Mannschaft die Ziele erreicht. Wenn es nicht klappt, wird der
Trainer ausgetauscht. Fertig. Aber in der Schule hängt er
40 Jahre lang.

Wie soll sich daran je etwas ändern?

Sowohl der Verein der Mathematik und Physiklehrkräfte
(VSMP) als auch wir vom Ausbildungszentrum für
Informatik an der ETH Zürich (ABZ und Mint) entwickeln
neue Unterrichtsmaterialien, die diese Fairness
liefern. Die Zielsetzungen werden darin nach jedem
Abschnitt klar formuliert, Erklärungen geliefert und
Trainingsmöglichkeiten offeriert. Damit können
auch wenig begabte Schüler die Ziele erreichen, sogar
wenn der Lehrer versagt.

Eine kühne Behauptung. Gibt es Erfahrungswerte?

Ich habe selber jahrelang Projekte mit GymiKlassen
durchgeführt. Die Durchschnittsnoten der Schüler
lagen zwischen 4,7 und 5.

Was haben Lehrer mit so einem Lehrmaterial noch zu tun?

Es geht nicht darum, als Lehrer Vorträge zu
halten. Vielmehr müssen sie das Training gestalten. Man
muss die Inhalte auf eigene Art immer wieder erklären,
die Schüler begleiten. Das Schlimmste ist, dass es vorkommt,
dass Lehrpersonen Prüfungsaufgaben stellen, die nicht
auf das Training abgestimmt sind, und es nicht einmal merken. Man
muss sie dazu bringen, solche Fehler nicht zu machen.

Wie soll das gehen?

Da sind die Fachschaften gefordert. Schlecht gelaufene
Prüfungen sollten nicht allein Sache der Lehrperson
bleiben, sondern in der Fachschaft offen zum Thema gemacht
werden.

Sie fordern auch einen "realitätsbezogeneren"
Matheunterricht.

Unser Modell des Matheunterrichts ist vor hundert Jahren
entstanden. Die Schüler lernen etwa, lineare Gleichungen
zu lösen. Das heisst, sie lernen eine Methode, ein
Produkt, das lange entwickelt wurde, auswendig und setzen
Zahlen ein. Das ist nicht Mathematikunterricht, wie ich ihn
mir vorstelle.

Sondern?

Mathematik ist eine Sprache, die entwickelt wurde, um die
Realität abstrakt zu beschreiben und zu untersuchen. Sie
muss als Forschungsinstrument unterrichtet werden, das man
ständig verbessern kann.

Können Sie das ausführen?

Nehmen Sie die Begriffe der Unendlichkeit oder
Wahrscheinlichkeit. Man hatte sie schon lange erkannt,
aber es brauchte Hunderte Jahre, ihre genaue Bedeutung
festzulegen.  Sie sind Schlüssel, weil sie bestimmen, was
man mit Mathematik heute anstellen kann. Aber über diese
begriffsbildenden Prozesse erfahren die Schüler kaum
etwas. Stattdessen lernen sie Produkte der Wissenschaft,
Methoden auswendig und setzen Zahlen ein. Das können
Maschinen heute besser.

Was bringt denn die Kenntnis der Entstehung der Mathematik
im Alltag?

Alles wird verständlicher. Der Mensch der Zukunft wird
nicht Wissen im Kopf speichern müssen. Dafür gibt es
Internet. Es wird aber immer wichtiger sein, kreativ denken
zu können. Er muss wissen, wie man etwas herausfinden
kann, wie man eigene Vorstellungen bildet und wie man
überprüfen kann, ob sie stimmen.  Es geht darum,
Entdeckungsprozesse näherzubringen. Damit lassen
sich Klassen auch begeistern. EliteUnis gehen schon heute in
diese Richtung und sprechen über "critical thinking".

Schiesst der Anspruch, dass jeder Maturand Mathe kreativ
einsetzen kann, nicht über das Ziel hinaus?

Was will die Schule? Dass die Leute intellektuell
wachsen. Es gibt kein höheres Ziel. Das führt zu
Bürgerinnen und Bürgern, die nicht einfach glauben,
was Statistiken oder Medien berichten, sondern selber
prüfen und nachdenken wollen, was hinter den Zahlen
genau steckt. Wir werden bessere Entscheidungen treffen
können, gesellschaftliche Entscheidungsprozesse
werden fundierter, Politik sachlicher. Kurz, wir werden
eine andere Gesellschaft sein.

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