Als SVP-Nationalrat Roger Köppel
Bundesrätin Simonetta Sommaruga im Nationalrat verbal
attackiert, verlässt diese den Saal - und mit ihr die gesamte
SP-Fraktion. Der Vorfall sorgte für Schlagzeilen:
In einem anderen Land und einem anderen Parlament hätte es wohl eine
wüste Schlägerei gegeben. Das schweizerische Äquivalent,
die höchste Eskalationsstufe im hiesigen Parlamentarismus, ist das
demonstrative Verlassen des Saales. Das passiert einigermassen häufig
bei Nationalrätinnen und Nationalräten (und ist entsprechend
wirkungslos). So gut wie nie verlässt eine Bundesrätin,
ein Bundesrat die Debatte. Vor allem nicht, wenn sie oder er direkt
angesprochen wird.
Justizministerin Simonetta Sommaruga (SP) ist seit diesem Dienstag die
grosse Ausnahme. Als SVP-Nationalrat und "Weltwoche"-Chefredaktor Roger
Köppel zur Erweiterung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien
sprach und dabei Sommaruga heftig angriff, verliess die Angesprochene
den Saal. Sommaruga wollte sich später nicht dazu äussern,
aber die Sachlage war ziemlich eindeutig: Sie wollte sich Köppel
nicht mehr antun.
Mit ihr verliessen mehrere Mitte-Politiker und später die
gesamte SP-Fraktion den Saal. "Er hat die Grenzen des Anstands
verletzt. Köppel ist ein Schreibtischentgleiser", sagt
SP-Fraktionschef Roger Nordmann und erfindet dabei gleich ein neues
Wort. "Respektlos" fand den Auftritt Maya Graf von den Grünen. "Das
war einfach unanständig", sagt CVP-Nationalrätin Elisabeth
Schneider-Schneiter. Sie kann Sommaruga verstehen, hätte
aber anders gehandelt. "Das kann ihr als Zeichen der Schwäche
ausgelegt werden." Und BDP-Fraktionschefin Rosmarie Quadranti, die
in ihrem späteren Votum die Rede von Köppel als "frech" und
"unflätig" bezeichnete, sagt: "Man muss sich nicht alles bieten
lassen."
Was also hat Köppel gesagt? Sommaruga ist schon seit längerer
Zeit eines der Hauptziele der "Weltwoche", der Duktus von Köppels
Rede aus vielen früheren Zeitungs-Editorials wohlbekannt. "Ihr
Gesicht strahlt die kampfbereite Gereiztheit einer von den Leistungen
ihrer Schüler dauerenttäuschten Lehrerin aus", hat
Köppel im Dezember über Sommaruga geschrieben, ähnlich
direkt war es am Dienstag während der Debatte. Mit "frivoler
Leichtfertigkeit" setze sich die Justizministerin in Brüssel
über Verfassungsbestimmungen hinweg, sagte Köppel und warf
Sommaruga vor, die Dinge nicht beim Namen zu nennen. Die Justizministerin
spreche - im Kontext der Asylgesetzrevision - lieber von einem
"Plangenehmigungsverfahren" als von "Enteignungen", wenn sie, die
Justizministerin, den Leuten die Häuser und Wohnungen wegnehmen
wolle, "um die von Ihnen ins Land geholten Männer aus Gambia,
Somalia und Eritrea als Asylanten unterzubringen".
Das war der Moment, als Sommaruga den Saal verliess. Köppel
machte noch weiter: "Sie sprechen lieber von Verhandlungen oder von
Ausgleichsmassnahmen statt von Erpressung, wenn Sie die offenkundige
Tatsache bemänteln wollen, dass Sie und Ihre Kollegen sich bei der
Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien von der EU haben
erpressen lassen."
So ging es noch ein paar Minuten weiter. Dann: Abgang Köppel,
Rückkehr Sommaruga und Beginn der fiebrigen Nachbesprechung. Was
war da passiert? War es richtig? War es falsch? Muss sich ein Bundesrat
vorwerfen lassen dürfen, erpresst worden zu sein? Köppel
sei einfach ein "frecher Siech", sagte ein SP-Parlamentarier danach
(und das nicht auf die lustige Art). Anders sieht das, wenig
erstaunlich, Köppel selbst. Eine Bundesrätin müsse
sich kritische Bemerkungen zur Migrationspolitik gefallen lassen, sagt
er. "Wenn Frau Bundesrätin schon bei meinem wohl abgewogenen Votum
rausläuft, wie sind dann ihre Widerstandskräfte bei Gegenwind
in Brüssel?" Das geht doch nicht, schreibt Köppel per SMS:
"Mimosen-SP mit Glaskinn."
Am Nachmittag wollte es Köppel genauer wissen und fragte Sommaruga
nach ihrem Votum, warum sie den Saal verlassen habe. "Ich beantwortete
gerne Ihre Fragen zu Kroatien, Herr Köppel", sagte Sommaruga. Mehr
nicht.
SVP-Nationalrat Roger Köppel attackierte Bundesrätin Simonetta
Sommaruga während der Sondersession im Nationalrat scharf. Daraufhin
verliess Sommaruga den Saal, die SP-Fraktion folgte ihr.
In der Sondersession des Nationalrates ist es am Dienstag
zum Eklat gekommen. Als der "Weltwoche"-Chefredaktor und
neugewählte Nationalrat Roger Köppel zur Ausweitung der
Personenfreizügigkeit auf Kroatien spricht und dabei Bundesrätin
Sommaruga massiv angreift, verlässt diese den Saal. Köppel
sagte, Sommaruga setze sich "mit einer frivolen Leichtfertigkeit"
über Verfassungsbestimmungen hinweg.
"Ich staune, ja, ich finde es fast schon wieder bewundernswert, mit was
für einer frivolen Leichtfertigkeit Sie sich, Frau Bundesrätin,
über Verfassungsbestimmungen hinwegsetzen, die Sie selber bis vor
Kurzem noch mit Vehemenz hochgehalten haben."
"Ich weiss, Frau Bundesrätin, Sie haben es nicht so gern, wenn man
die Dinge beim Namen nennt, wenn man sagt, wie es wirklich ist. Sie
reden lieber von Plangenehmigungsverfahren statt von Enteignungen,
wenn Sie den Leuten die Häuser und die Wohnungen wegnehmen wollen,
um dort die von Ihnen ins Land geholten jungen Männer aus Gambia,
Somalia oder Eritrea als Asylanten unterzubringen. Und Sie sprechen lieber
von Verhandlungen oder von Ausgleichsmassnahmen statt von Erpressung,
wenn Sie die offenkundige Tatsache bemänteln wollen, dass Sie und
Ihre Kollegen sich bei der Ausdehnung der Personenfreizügigkeit
auf Kroatien von der EU haben erpressen lassen."
Diese Rolle braucht es neben Albert Rösti, dem neuen
umgänglichen, weichen Präsidenten dringender denn
je. Übernommen hat sie Roger Köppel. Viel bewegt hat
er in seinen ersten Monaten als Nationalrat nicht - ausser die
Gemüter. Doch genau das ist auch seine Aufgabe. Sachpolitiker,
die sich in den Kommissionen über das Kleingedruckte beugen,
gibt es mehr als genug. Köppel soll tun, was er am besten kann:
provozieren und dabei auch die Grenzen des Erträglichen ausloten. Das
zeigt sein Angriff auf Bundesrätin Simonetta Sommaruga, die
nach dem Rücktritt von Widmer-Schlumpf die neue
Lieblingsfeindin der SVP ist.
Köppel tut das lustvoll und kalkulierend, wie sein gestriger Auftritt
beweist. Als Sommaruga den Saal verlässt und seine Angriffe
Widerspruch in Saal auslösen, huscht ein zufriedenes
Lächeln über sein Gesicht.
Wie Mörgeli einst hat auch Köppel das uneingeschränkte
Vertrauen von SVP-Silberrücken Christoph Blocher. Doch Köppel
ist gleichzeitig einflussreicher als sein Vorgänger. Er versteht
es meisterlich, die Basis auf seine Seite zu ziehen. Und er hat
mit der "Weltwoche" eine Zeitschrift, die er als Werkzeug für
Parteipolitik einsetzen kann. Sein Potenzial, dem politischen Gegner
Schaden zuzufügen, ist damit um einiges grösser.
In der Politik darf in der Sache hart gefochten werden.
Köppel durfte aufzeigen und beanstanden, dass Bundesrätin
Sommaruga jüngst eindeutig ausgesagt hatte, dass die Ausdehnung
der Personenfreizügigkeit mit Kroatien nicht verfassungskonform
sei und deshalb nicht gutgeheissen werden kann.
Diesen Widerspruch aufzuzeigen war legal.
Was jedoch nicht geht: Eine Politikerin darf nicht persönlich
angegriffen werden.
In den Kommentaren erntete deshalb Köppel für die
persönlichen Angriffe harte Kritik. Er bezeichnete die Magistratin
nachträglich als hochnäsig.
Bundesrätin Sommaruga kommt anderseits für "das Davonlaufen"
viele Negativpunkte. Dies sei keine Lösung. Die Flucht zeige, dass
die Bundesrätin überfordert gewesen sei. Wer davon läuft,
verliere im Grunde genommen das Gesicht.
Einmal mehr zeigt dieser Eklat. Provokateure punkten, wenn sich das
Gegenüber provozieren lässt.
Man muss sich nicht alles gefallen lassen, doch sollte man auch
eine Meinung anhören können, wenn diese nicht
genehm ist. Ein Davonlaufen wird beim Publikum als Zeichen der
Hilflosigkeit gewertet.
Beobachter sind uneins, ob eine Bundesrätin so auf einen verbalen
Angriff reagieren darf. Verständnis äussert Politikberater
Mark Balsiger: "Bundesrätin Sommaruga ist auch nur ein Mensch. Ihr
darf es
auch einmal den Nuggi raushauen." Es gibt kein Bundesratsmitglied,
das in den letzten Jahren so viele Angriffe über sich ergehen
lassen musste wie sie."
Laut Balsiger trägt Köppel seinen angriffig-polemischen
Stil der "Weltwoche"-Editorials mit lausbübischer Freude in die
Ratsdebatte. Mit solchen Provokationen generiere er Schlagzeilen,
mit engagierter Mitarbeit in den Kommissionen nicht. "Entsprechend
sind Tabubrüche auch in Zukunft zu erwarten."
Dagegen findet Kommunikationsberater Marcus Knill Sommarugas Flucht
falsch: "In einer Demokratie gehört es sich, dass man sich
zuhört, auch wenn man anderer Meinung ist." Wer davonlaufe,
verliere das Gesicht, zudem könnte es als Zeichen der
Hilflosigkeit interpretiert werden. Knill findet, dass Köppels
direkte Kommunikation dem Politbetrieb in Bern gut tue: "Oft waren
die Debatten langweilig, man hat sich geschont und um den heissen
Brei geredet." Er sei ein Verfechter einer Streitkultur, in der mit
Rede und Gegenrede um Positionen gerungen werde.
Politologe Louis Perron sagt, Sommaruga habe eher "zu
dünnhäutig" reagiert. Eine Magistratin müsse in
einer Parlamentsdebatte einstecken können, selbst wenn die
Rede Köppels von "schlechtem Stil" gezeugt habe. "In anderen
Ländern geht es ganz anders zu und her. In Grossbritannien
gehört das Ausbuhen der Gegenseite einfach dazu."
Ein Beispiel aus der Debatte des britischen Unterhauses machte erst
kürzlich auf Youtube die Runde. Labour-Mann Dennis Skinner
nannte den
britischen Premier David Cameron in der Debatte um die
Panama-Papers"Dodgy Dave" ("zwielichtiger Dave"). Das war
selbst für Grossbritannien zu viel Skinner musste den Saal
verlassen. Cameron blieb gelassen.
Tumultartige Szenen spielten sich 2010 im deutschen Bundestag ab, als
die heutige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) und
Sigmar Gabriel (SPD) aneinanderrasselten.
Laut Perron ist die Kultur in der Schweiz eine andere: "Wir Schweizer
sind besonders harmoniebedürftig. Den neuen Stil und Ton,
den die SVP in die Debatte bringt, sei aber nicht schlimm. "Ich
glaube nicht,
dass früher alles besser war. Man müsse nur an die Debatte
um das Frauenstimmrecht zurückdenken. "Die frauenfeindlichen
Zitate von damals sind heute undenkbar." Zudem würden die Gegner
auch Strategien entwickeln, um Angriffe abzufangen.
Auch Balsiger sagt, in Grossbritannien begünstige das klare
Oppositions- und Regierungssystem eine scharfe Rhetorik. Diese
passe nicht zur Konsens-Kultur in unserem Land. Deutschschweizer
Parlamentarier seien rhetorisch weniger beschlagen als englische
Abgeordnete: "Bei uns wird die freie Rede nicht gepflegt. "Es hat sich
die Unsitte eingebürgert, selbst kurze Voten vom Blatt abzulesen."