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www.rhetorik.ch aktuell: (27. Apr, 2016)

Sommaruga verlaesst Saal

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Als SVP-Nationalrat Roger Köppel Bundesrätin Simonetta Sommaruga im Nationalrat verbal attackiert, verlässt diese den Saal - und mit ihr die gesamte SP-Fraktion. Der Vorfall sorgte für Schlagzeilen:


Tagi:
In einem anderen Land und einem anderen Parlament hätte es wohl eine wüste Schlägerei gegeben. Das schweizerische Äquivalent, die höchste Eskalationsstufe im hiesigen Parlamentarismus, ist das demonstrative Verlassen des Saales. Das passiert einigermassen häufig bei Nationalrätinnen und Nationalräten (und ist entsprechend wirkungslos). So gut wie nie verlässt eine Bundesrätin, ein Bundesrat die Debatte. Vor allem nicht, wenn sie oder er direkt angesprochen wird. Justizministerin Simonetta Sommaruga (SP) ist seit diesem Dienstag die grosse Ausnahme. Als SVP-Nationalrat und "Weltwoche"-Chefredaktor Roger Köppel zur Erweiterung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien sprach und dabei Sommaruga heftig angriff, verliess die Angesprochene den Saal. Sommaruga wollte sich später nicht dazu äussern, aber die Sachlage war ziemlich eindeutig: Sie wollte sich Köppel nicht mehr antun. Mit ihr verliessen mehrere Mitte-Politiker und später die gesamte SP-Fraktion den Saal. "Er hat die Grenzen des Anstands verletzt. Köppel ist ein Schreibtischentgleiser", sagt SP-Fraktionschef Roger Nordmann und erfindet dabei gleich ein neues Wort. "Respektlos" fand den Auftritt Maya Graf von den Grünen. "Das war einfach unanständig", sagt CVP-Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter. Sie kann Sommaruga verstehen, hätte aber anders gehandelt. "Das kann ihr als Zeichen der Schwäche ausgelegt werden." Und BDP-Fraktionschefin Rosmarie Quadranti, die in ihrem späteren Votum die Rede von Köppel als "frech" und "unflätig" bezeichnete, sagt: "Man muss sich nicht alles bieten lassen." Was also hat Köppel gesagt? Sommaruga ist schon seit längerer Zeit eines der Hauptziele der "Weltwoche", der Duktus von Köppels Rede aus vielen früheren Zeitungs-Editorials wohlbekannt. "Ihr Gesicht strahlt die kampfbereite Gereiztheit einer von den Leistungen ihrer Schüler dauerenttäuschten Lehrerin aus", hat Köppel im Dezember über Sommaruga geschrieben, ähnlich direkt war es am Dienstag während der Debatte. Mit "frivoler Leichtfertigkeit" setze sich die Justizministerin in Brüssel über Verfassungsbestimmungen hinweg, sagte Köppel und warf Sommaruga vor, die Dinge nicht beim Namen zu nennen. Die Justizministerin spreche - im Kontext der Asylgesetzrevision - lieber von einem "Plangenehmigungsverfahren" als von "Enteignungen", wenn sie, die Justizministerin, den Leuten die Häuser und Wohnungen wegnehmen wolle, "um die von Ihnen ins Land geholten Männer aus Gambia, Somalia und Eritrea als Asylanten unterzubringen". Das war der Moment, als Sommaruga den Saal verliess. Köppel machte noch weiter: "Sie sprechen lieber von Verhandlungen oder von Ausgleichsmassnahmen statt von Erpressung, wenn Sie die offenkundige Tatsache bemänteln wollen, dass Sie und Ihre Kollegen sich bei der Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien von der EU haben erpressen lassen." So ging es noch ein paar Minuten weiter. Dann: Abgang Köppel, Rückkehr Sommaruga und Beginn der fiebrigen Nachbesprechung. Was war da passiert? War es richtig? War es falsch? Muss sich ein Bundesrat vorwerfen lassen dürfen, erpresst worden zu sein? Köppel sei einfach ein "frecher Siech", sagte ein SP-Parlamentarier danach (und das nicht auf die lustige Art). Anders sieht das, wenig erstaunlich, Köppel selbst. Eine Bundesrätin müsse sich kritische Bemerkungen zur Migrationspolitik gefallen lassen, sagt er. "Wenn Frau Bundesrätin schon bei meinem wohl abgewogenen Votum rausläuft, wie sind dann ihre Widerstandskräfte bei Gegenwind in Brüssel?" Das geht doch nicht, schreibt Köppel per SMS: "Mimosen-SP mit Glaskinn." Am Nachmittag wollte es Köppel genauer wissen und fragte Sommaruga nach ihrem Votum, warum sie den Saal verlassen habe. "Ich beantwortete gerne Ihre Fragen zu Kroatien, Herr Köppel", sagte Sommaruga. Mehr nicht.
20 Min:
SVP-Nationalrat Roger Köppel attackierte Bundesrätin Simonetta Sommaruga während der Sondersession im Nationalrat scharf. Daraufhin verliess Sommaruga den Saal, die SP-Fraktion folgte ihr. In der Sondersession des Nationalrates ist es am Dienstag zum Eklat gekommen. Als der "Weltwoche"-Chefredaktor und neugewählte Nationalrat Roger Köppel zur Ausweitung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien spricht und dabei Bundesrätin Sommaruga massiv angreift, verlässt diese den Saal. Köppel sagte, Sommaruga setze sich "mit einer frivolen Leichtfertigkeit" über Verfassungsbestimmungen hinweg. "Ich staune, ja, ich finde es fast schon wieder bewundernswert, mit was für einer frivolen Leichtfertigkeit Sie sich, Frau Bundesrätin, über Verfassungsbestimmungen hinwegsetzen, die Sie selber bis vor Kurzem noch mit Vehemenz hochgehalten haben."
"Ich weiss, Frau Bundesrätin, Sie haben es nicht so gern, wenn man die Dinge beim Namen nennt, wenn man sagt, wie es wirklich ist. Sie reden lieber von Plangenehmigungsverfahren statt von Enteignungen, wenn Sie den Leuten die Häuser und die Wohnungen wegnehmen wollen, um dort die von Ihnen ins Land geholten jungen Männer aus Gambia, Somalia oder Eritrea als Asylanten unterzubringen. Und Sie sprechen lieber von Verhandlungen oder von Ausgleichsmassnahmen statt von Erpressung, wenn Sie die offenkundige Tatsache bemänteln wollen, dass Sie und Ihre Kollegen sich bei der Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien von der EU haben erpressen lassen."
Blick:
Diese Rolle braucht es neben Albert Rösti, dem neuen umgänglichen, weichen Präsidenten dringender denn je. Übernommen hat sie Roger Köppel. Viel bewegt hat er in seinen ersten Monaten als Nationalrat nicht - ausser die Gemüter. Doch genau das ist auch seine Aufgabe. Sachpolitiker, die sich in den Kommissionen über das Kleingedruckte beugen, gibt es mehr als genug. Köppel soll tun, was er am besten kann: provozieren und dabei auch die Grenzen des Erträglichen ausloten. Das zeigt sein Angriff auf Bundesrätin Simonetta Sommaruga, die nach dem Rücktritt von Widmer-Schlumpf die neue Lieblingsfeindin der SVP ist. Köppel tut das lustvoll und kalkulierend, wie sein gestriger Auftritt beweist. Als Sommaruga den Saal verlässt und seine Angriffe Widerspruch in Saal auslösen, huscht ein zufriedenes Lächeln über sein Gesicht. Wie Mörgeli einst hat auch Köppel das uneingeschränkte Vertrauen von SVP-Silberrücken Christoph Blocher. Doch Köppel ist gleichzeitig einflussreicher als sein Vorgänger. Er versteht es meisterlich, die Basis auf seine Seite zu ziehen. Und er hat mit der "Weltwoche" eine Zeitschrift, die er als Werkzeug für Parteipolitik einsetzen kann. Sein Potenzial, dem politischen Gegner Schaden zuzufügen, ist damit um einiges grösser.
In der Politik darf in der Sache hart gefochten werden. Köppel durfte aufzeigen und beanstanden, dass Bundesrätin Sommaruga jüngst eindeutig ausgesagt hatte, dass die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit mit Kroatien nicht verfassungskonform sei und deshalb nicht gutgeheissen werden kann. Diesen Widerspruch aufzuzeigen war legal. Was jedoch nicht geht: Eine Politikerin darf nicht persönlich angegriffen werden. In den Kommentaren erntete deshalb Köppel für die persönlichen Angriffe harte Kritik. Er bezeichnete die Magistratin nachträglich als hochnäsig.
Bundesrätin Sommaruga kommt anderseits für "das Davonlaufen" viele Negativpunkte. Dies sei keine Lösung. Die Flucht zeige, dass die Bundesrätin überfordert gewesen sei. Wer davon läuft, verliere im Grunde genommen das Gesicht.
Einmal mehr zeigt dieser Eklat. Provokateure punkten, wenn sich das Gegenüber provozieren lässt.
Man muss sich nicht alles gefallen lassen, doch sollte man auch eine Meinung anhören können, wenn diese nicht genehm ist. Ein Davonlaufen wird beim Publikum als Zeichen der Hilflosigkeit gewertet.

20 MIn:

Beobachter sind uneins, ob eine Bundesrätin so auf einen verbalen Angriff reagieren darf. Verständnis äussert Politikberater Mark Balsiger: "Bundesrätin Sommaruga ist auch nur ein Mensch. Ihr darf es auch einmal den Nuggi raushauen." Es gibt kein Bundesratsmitglied, das in den letzten Jahren so viele Angriffe über sich ergehen lassen musste wie sie." Laut Balsiger trägt Köppel seinen angriffig-polemischen Stil der "Weltwoche"-Editorials mit lausbübischer Freude in die Ratsdebatte. Mit solchen Provokationen generiere er Schlagzeilen, mit engagierter Mitarbeit in den Kommissionen nicht. "Entsprechend sind Tabubrüche auch in Zukunft zu erwarten."

Dagegen findet Kommunikationsberater Marcus Knill Sommarugas Flucht falsch: "In einer Demokratie gehört es sich, dass man sich zuhört, auch wenn man anderer Meinung ist." Wer davonlaufe, verliere das Gesicht, zudem könnte es als Zeichen der Hilflosigkeit interpretiert werden. Knill findet, dass Köppels direkte Kommunikation dem Politbetrieb in Bern gut tue: "Oft waren die Debatten langweilig, man hat sich geschont und um den heissen Brei geredet." Er sei ein Verfechter einer Streitkultur, in der mit Rede und Gegenrede um Positionen gerungen werde.

Politologe Louis Perron sagt, Sommaruga habe eher "zu dünnhäutig" reagiert. Eine Magistratin müsse in einer Parlamentsdebatte einstecken können, selbst wenn die Rede Köppels von "schlechtem Stil" gezeugt habe. "In anderen Ländern geht es ganz anders zu und her. In Grossbritannien gehört das Ausbuhen der Gegenseite einfach dazu." Ein Beispiel aus der Debatte des britischen Unterhauses machte erst kürzlich auf Youtube die Runde. Labour-Mann Dennis Skinner nannte den britischen Premier David Cameron in der Debatte um die Panama-Papers"Dodgy Dave" ("zwielichtiger Dave"). Das war selbst für Grossbritannien zu viel Skinner musste den Saal verlassen. Cameron blieb gelassen. Tumultartige Szenen spielten sich 2010 im deutschen Bundestag ab, als die heutige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) und Sigmar Gabriel (SPD) aneinanderrasselten. Laut Perron ist die Kultur in der Schweiz eine andere: "Wir Schweizer sind besonders harmoniebedürftig. Den neuen Stil und Ton, den die SVP in die Debatte bringt, sei aber nicht schlimm. "Ich glaube nicht, dass früher alles besser war. Man müsse nur an die Debatte um das Frauenstimmrecht zurückdenken. "Die frauenfeindlichen Zitate von damals sind heute undenkbar." Zudem würden die Gegner auch Strategien entwickeln, um Angriffe abzufangen. Auch Balsiger sagt, in Grossbritannien begünstige das klare Oppositions- und Regierungssystem eine scharfe Rhetorik. Diese passe nicht zur Konsens-Kultur in unserem Land. Deutschschweizer Parlamentarier seien rhetorisch weniger beschlagen als englische Abgeordnete: "Bei uns wird die freie Rede nicht gepflegt. "Es hat sich die Unsitte eingebürgert, selbst kurze Voten vom Blatt abzulesen."

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