Am Montag stehen in den Bahnhöfen von Zürich und Genf
Kamerateams der SBB. Sie drehen aber nicht etwa einen neuen Werbespot,
sondern laden alle Kunden ein, ihnen ihre Kritik ins Gesicht -
also in die Kamera - zu sagen. Diese Clips werden danach auf den
Social-Media-Kanälen der SBB verbreitet.
Auf der neuen Plattform sbb.ch/zufriedenheit können die Kunden ab
sofort ihre Befindlichkeit über das Angebot der SBB ausdrücken
und bewerten. Mittels Sterne-Rating in acht verschiedenen Bereichen
- zum Beispiel Freundlichkeit, Sauberkeit oder Pünktlichkeit -
sehen die SBB so in Echtzeit, was den Kunden derzeit auf dem Herzen
liegt. Die Ergebnisse sind auch für die Öffentlichkeit
sichtbar. Jeden Tag wird das Rating wieder zurückgesetzt, in der
Monatsübersicht wird aber ersichtlich, wie die Bahn abgeschnitten
hat. Zusätzlich stellen die SBB an den Bahnhöfen Basel, Bern,
Genf und Zürich sogenannte Buzzer auf und lanciert die neue digitale
Plattform www.sbb.ch/zufriedenheit (siehe Box). Für "Ungeduldige"
und "Pünktlichkeits-Fanatiker" Gleichzeitig schalten die SBB neue
TV-Werbespots auf, die sich explizit an die "Ungeduldigen, Rastlosen,
Pünktlichkeits-Fanatiker, Saubermänner und Gastrokritiker"
richten. Die SBB lädt also die ärgsten Kritiker ein, sich
öffentlich zu äussern, gibt ihnen eine Stimme und - so die
Idee - schenkt ihnen Gehör. Kann das wirklich gutgehen?
Kommunikationsexperte Marcus Knill findet die Kampagne mutig und gelungen:
"Den Dialog mit den Kunden zu suchen ist lobenswert und gut und wird
von vielen Unternehmen viel zu wenig gemacht." Dennoch hat er einige
Vorbehalte. Denn der TV-Spot berge eine gewisse Gefahr: So könnten
die unangenehmen Erlebnisse bei den Kunden wieder hoch kommen - was
bedeute, dass die negativen Erlebnisse trotz den zum Teil recht lustigen
Sequenzen geankert und verstärkt würden. Er selbst sei das
beste Beispiel: "Ich musste jüngst mit einem 1.-Klasse-Billett von
Bern nach Zürich auf der Treppe im Gang Platz nehmen."
Geteilter Ärger ist halber Ärger Knill hält das Einbinden
der Kunden und der ärgsten Kritiker für psychologisch
"geschickt aufgegleist": "Durch die Möglichkeit, den Frust los zu
werden und den Ärger gleichsam abzuladen, kommt es zwangsläufig
zu einer Entlastung bei den Kunden." Das sei ähnlich wie bei der
Beichte. "Ganz im Sinne von: Geteilter Ärger ist halber Ärger."
Doch nehmen die SBB die Kritik überhaupt ernst? Jan-Hendrik
Völker-Albert, Marketing-Verantwortlicher SBB, sagt:
"Natürlich. Wir wollen speziell von unseren unzufriedenen Kunden
wissen, wo sie der Schuh drückt." Da sowohl positive als auch
negative Erlebnisse unmittelbar bewertet werden, könnten die
SBB so Schwachstellen schneller identifizieren. Die SBB suchen
dabei laut Völker-Albert auch nach Hinweisen, die ihnen bisher
noch nicht bekannt waren. Er betont aber, dass keine Wunder erwartet
werden dürften. "Komplexe Themen wie eine Fahrplan-Optimierung
müssen langfristig angegangen werden." Kurt Schreiber vom Verein
Pro Bahn glaubt den SBB, dass diese sich die Kritik der Kunden zu Herzen
nehmen werden. "Sie setzen alles daran, die Qualitätsstandards zu
erfüllen." Und die Kunden müssten zum Teil vor der eigenen
Türe kehren - zum Beispiel in Sachen Sauberkeit: "Man kann selbst
etwas dafür tun und seinen Abfall nicht einfach liegenlassen."
"Mit einem Lächeln quittieren" Die Kampagne findet Schreiber gelungen
- auch die Bezeichnungen im TV-Spot wie "Pünktlichkeitsfanatiker"
könne man so belassen, wie sie sind. "Für mich ist einfach
wichtig, dass die Betroffenen diesen Beitrag mit einem Lächeln
quittieren."