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Ein SRG Artikel gibt ein Interview mit
Werner Wirth
von der Uni Zürich wieder. Es geht um die Frage der Wirkung und Rolle
von Online-Kommentaren, die mehr
und mehr die Rolle der Leserbriefe übernommen haben.
SRF:
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Der Klimawandel? "Ein Hirngespinst!" Die Flüchtige? "Allesamt
ausschaffen!" Wenn man sich durch Onlinekommentare klickt, staunt man
oft über die Einseitigkeit der Beiträge - so der Eindruck
vieler. Der Zürcher Medienpsychologe Werner Wirth über
den Einfluss von und den Umgang mit Leserreaktionen.
In den Onlinekommentarforen findet selten ein kultivierter
Meinungsaustausch statt. Oft geben die unzufriedenen den Ton an und
damit auch den Kurs der Diskussion. Teilen Sie diesen Eindruck?
Werner Wirth: Zum grossen Teil ja. Die Personen, die sich an
Onlinekommentaren beteiligen, sind immer wieder die gleichen. Es ist
kein repräsentatives Abbild der Bevölkerung, sondern ein
verschwindend kleiner Teil. Studien zeigen, dass sich rechtsgerichtete
Personen aktiver an Kommentaren beteiligen, während sich
linksgerichtete Personen eher mit "Likes" begnügen. Allerdings
wissen wir auch, dass es je nach Thema und je nach Medium durchaus
Diskussionen im positiven Sinne gibt.
Warum sind anderslautende Stimmen so rar?
Wenn sich vor allem Personen mit einer bestimmten politischen Couleur
beteiligen, dann ist natürlich deutlich, dass diese Richtung
dominiert. Wenn eine Diskussion zudem sehr stark durch negative
Kommentare gekennzeichnet ist, verlieren Personen, die differenziert
eine Meinung abgeben möchten, die Lust, sich daran zu beteiligen.
Es gibt die Theorie der Schweigespirale. Sie besagt, dass die
Bereitschaft vieler Menschen, sich öffentlich zu ihrer
Meinung zu bekennen, von der Mehrheitsmeinung abhängt:
Widerspricht die eigene Meinung jener der Mehrheit, hält man
sich zurück. Spielt das auch eine Rolle?
Genau. Wenn Vertreter einer bestimmten Meinung glauben, sie
seien in der Minderheit - auch wenn sie tatsächlich in der
Mehrheit sind -, dann tendiert dieser Bevölkerungsteil dazu,
sich nicht an der Diskussion zu beteiligen. Ein zweiter Aspekt der
Schweigespirale behauptet, dass man sich dann der vermeintlichen
Mehrheitsmeinung angleicht. Wir wissen, dass es tatsächlich
zu Urteilsänderungen kommt: Ich nehme einen Artikel anders
wahr, wenn hinterher einseitig und sehr negative Äusserungen
stattfinden. Anders als bei Artikeln, die durch ausgewogene Meinungen
gekennzeichnet sind.
Das heisst: Onlinekommentare, wie immer sie auch geartet sind, haben
eine Rückwirkung auf die öffentliche Meinung?
Studien zeigen, dass die vertretene Meinung in Onlinekommentaren
tatsächlich als Abbild der Bevölkerung wahrgenommen
wird. Nicht als Meinung von Einzelnen, Wenigen, die sich ganz besonders
aktiv beteiligen. Zum anderen nehmen die Kommentare Einfluss auf die
Urteilsbildung zum journalistischen Gegenstand. Sie werden darüber
hinaus als veröffentlichte Meinung mit einer sehr hohen Reichweite
auch von Politikern und anderen Medienhäusern gelesen.
Woran merken Sie das?
Wir wissen schon aus der uralten Leserbriefforschung: Die ganz
wenigen Leserbriefe hatten einen grossen Einfluss auf das, was
Journalisten glauben, wie das Publikum denkt. Selbst die ganz wenigen
Leserbriefe wurden als typisch, als repräsentativ für die
Publikumsmeinung gewertet. Und es gibt Studien, die zeigen, dass sich
Journalisten sehr stark danach richten.
Was ist denn heute, im Online-Zeitalter, fundamental anders?
Natürlich die Einfachheit und Schnelligkeit, mit der man
schriftlich reagieren kann. Aus dem Wutgefühl im Bauch heraus hat
man schnell einen Dreizeiler geschrieben. Das ist natürlich mit
den Leserbriefen ganz anders. Früher musste man sich hinsetzen,
einen Brief verfassen, den eintüten und auf die Post bringen.
Oft sind direkt unter recherchierten, um Ausgewogenheit bemühten
journalistischen Beiträgen grobe, oft unflätige Kommentare
zu lesen. Wie sollen Medienhäuser damit umgehen?
Zwischen 25 und 80 Prozent der Kommentare werden ohnehin von
den Redaktionen nicht veröffentlicht, weil sie unangemessen
oder rassistisch sind. Es kostet sehr viel Zeit und Geld, diese
Onlinekommentare überhaupt zu redigieren. Ich glaube nicht,
dass es Sinn macht, noch stärker auszulesen.
Was dann?
Möglich wäre, den Leser, der die unflätigen Kommentare
nicht lesen möchte, auch nicht damit zu belästigen. Dass
am Ende vom Artikel nicht die am stärksten "gelikten"
Onlinekommentare erscheinen, sondern dass
das ausgelagert wird in ein separates Forum.
Ausserdem wäre es gut, nach Lösungen zu suchen, um die
Diskussion ein bisschen "abzukochen". Wartezeiten wären eine
Möglichkeit. Insgesamt tendiere ich jedoch dazu, dass man die Leute ihre Meinung schreiben
lässt. Damit aber nicht andere Leser, die diese Meinung nicht
lesen wollen, belästigt.