
Eltern und Lehrer haben Vorbehalte gegenüber alternativen Lernformen
wie das
selbstorganisierte,
das
integrierte oder
das altersdurchmischte Lernen. An Vorwürfen an der Innovationsrhetorik mangelt es nicht:
"Kinder werden überfordert", "Der konstante Lärm behindert das Lernen",
"Der Lehrer ist im Hintergrund",
"Schwächere Kinder kommen unter die Räder".
Es ist ein Irrtum zu glauben, alles was neu ist, auch wirklich gut.
Die Stärken des herkömmlichen Unterrichtes werden kleingeredet.
Roland Reichenbach meint:, Professor für allgemeine Erziehungswissenschaft an
der Uni Zürich. meint in einem NZZ Artikel
"Leider gibt es an den Schulen eine Neo-Manie":
Die beiden Themen, selbstorganisiertes Lernen und altersdurchmischte
Schulklassen, sind zu unterscheiden, auch wenn sie oft kombiniert
werden. Im Hintergrund des selbstorganisierten Lernens steht das
Bildungsziel der Selbstregulation. Diese Vokabel hat momentan eine
hohe gesellschaftliche Akzeptanz. Die pädagogische Frage ist
aber, ob, wann und in Bezug auf welche Inhalte die Schüler und
Schülerinnen fähig sind, mehr oder weniger selbstbestimmt
und selbstkontrolliert zu lernen. Die Realität des Lernens mag
eine ganz andere sein, als der verführende Begriff suggeriert.
Gerade mittelstarke und vor allem leistungsschwache Kinder brauchen mehr
Führung, Unterstützung und Kontrolle durch die Lehrperson -
ihnen könnte ein falsch verstandenes didaktisches Konzept besonders
schaden, während die Starken in praktisch jeder pädagogischen
Welt gute Leistungen zeigen.
Sie sagen "könnte schaden" - gibt es dafür Belege?:
Ja. Offene Lernformen haben zwar überall einen sehr guten Ruf,
aber in empirischen Studien schneiden sie meist höchst ambivalent
ab. Gerade dass bei schwächeren Schülern die Leistung
sinkt, wenn man ihnen zu viel zumutet, ist gut belegt. So hat der
neuseeländische Bildungsforscher John Hattie festgestellt,
dass der Lehrer für den Lernerfolg zentral ist - wobei der
Erfolg am grössten ist, wenn er den Unterricht möglichst
lenkt und strukturiert. Die Studie hat im Bildungsbetrieb viele Leute
verärgert. Denn sie sagt genau das Gegenteil von dem, was heute
propagiert wird.
...
Der Lehrer spielt im Fall des selbstorganisierten Lernens nur noch eine
(Neben-)Rolle als "Coach". Kommt das gut?
Dahinter steckt die Ansicht, dass alles, was der Mensch selber tut,
gut ist. Und dass alles, was von aussen kommt, schlecht ist. Da
schimmert die alte Angst vor der Macht des Lehrers durch, die in den
siebziger Jahren zu faktischen Berufsverboten für linke Lehrer
führte. Heute spricht niemand mehr von "Indoktrinierung", aber
es ist, als ob die Lehrperson didaktisch überflüssig gemacht
werden soll. Dabei wissen alle, dass sie wichtig ist. Nicht nur jeder,
der ernsthaft über seine eigene Schulkarriere nachdenkt, sondern
auch die empirischen Bildungsforscher wissen es - oder besser gesagt,
sie könnten es wissen, sofern sie bereit wären, dieses biedere
Element der schulischen Bildung zu akzeptieren.
Wäre in Zeiten, in denen jeder mit seinem Handy beschäftigt
ist, nicht mehr gemeinsamer Unterricht gefragt, unter Anleitung eines
Klassenlehrers?
Der meiste Unterricht ist auch heute "lehrerzentriert", was für
mich übrigens kein Schimpfwort ist. Klassenlehrer sind besonders
bedeutsam. Was kann es Besseres für ein Schulkind geben als
eine Lehrperson, die dem Kind drei Dinge zeigt: Erstens, dass das,
was gelernt werden soll, wichtig ist. Zweitens, dass der Schüler
diesen Inhalt lernen kann. Drittens, dass der Lehrer das Kind dabei
unterstützt. Das sind die Elementarien. Der Rest sind eher
Oberflächenphänomene, über die viel sinnlos gestritten
wird.
(...)
Dennoch sind neue Lernformen im Trend, gerade an den Pädagogischen
Hochschulen. Wie gross ist der moralische Druck auf die Schulen, diesem
Trend zu folgen?
Es gibt meines Erachtens verschiedene pädagogische Gottesdienste.
Momentan ist typisch, dass das Nicht-Typische besonders hohe Anerkennung
bewirkt. Dafür wird der herkömmliche Unterricht mit
moralisierenden Argumenten eher schlechtgeredet. Das halte ich nicht
für begrüssenswert. Die Stärken "herkömmlichen"
Unterrichts gilt es ebenso anzuerkennen. Es ist bedenklich, wenn die
Schule der Innovationsrhetorik auf den Leim geht. Erneuerungen sind, wenn
überhaupt, nur langsam umzusetzen. Die Trägheit des Systems ist
auch ein Garant für Verlässlichkeit und Stabilität, nicht
einfach bloss Indiz mangelnder Anpassungsbereitschaft. Es gibt auch in
der Schule eine "Neo-Manie", die abzulehnen ist. Es gibt Erneuerungen,
die grossartig sind, dies aber eher einmal im Jahrhundert als einmal
pro Monat - etwa die Erkenntnis, dass das Kind Bedürfnisse hat,
die man ernst nehmen sollte, statt diese zu bekämpfen.
Heute experimentieren die Volksschulen mit individualisierten Lernformen,
um der zunehmenden Heterogenität im Klassenzimmer zu begegnen. Wie
müsste die Schule Ihrer Meinung nach mit diesem Problem umgehen?
Heterogenität ist ein soziales Faktum, Homogenität eine
Illusion. Die Unterschiede zwischen den Menschen können das
Unterrichten - aus unterschiedlichen Gründen - extrem erschweren. Zu
behaupten, dass diese Probleme mit individualisiertem Unterricht alle
gelöst werden können, halte ich für blauäugig. Die
Debatte über die Inklusion lernschwacher Schüler zeugt von
dieser Manie der politischen Korrektheit. Wer die Schwierigkeiten,
Befürchtungen und Hoffnungen von Eltern, Lehrpersonen und
Schülern nicht ernst nimmt und es einfach besser weiss, was für
die Schule richtig und gut ist, wird in diesem Land meistens früher
oder später jäh gebremst. Selbstregulation ist also nicht
nur eine Chimäre.
Gemäss herrschender Lehrmeinung ist heute nicht primär reines
Wissen gefragt. Im Zentrum stehen Kompetenzen wie Selbständigkeit
und soziales Handeln. Teilen Sie diese Einschätzung?
Da niemand etwas gegen Kompetenzen haben kann, handelt es sich auch
hier um einen Gottesdienst, um ewig wiederholte, kaum analysierte oder
kritisch reflektierte Vokabeln, bildungspolitische und -praktische
Mantras. Natürlich sind Kompetenzen wichtig, und natürlich
müssen sie gefördert werden. Doch sämtliche
schulischen Lerninhalte nur noch durch die Kompetenz-Perspektive
zu betrachten, ist so unnötig wie ärgerlich. Richtig
ist, dass es Wissen gibt, das nicht unmittelbar "anwendbar" und
handlungswirksam ist. Wer das allerdings für problematisch
hält, sollte besser nicht im Bereich der Schule wirken.
Aehnliche Bestrebungen wie in der Schule gibt es auch im Management
und an Hochschulen. Es kann nicht alles selbst reguliert werden. An
einer namhaften Universität werden die Dozenten angehalten,
die Studierenden einen Auftrag zu geben, damit sie selbst den Stoff
erarbeiten können. Der Professor steht Fragen zur Verfügung
und ist gleichsam Coach oder Moderator. Das kann zu Faulheit verführen.
Das Zauberwort Selbstregulation wird oft vergoldet dargestellt. Sie erfordert
hohe Selbstmotivation der Studenten.
Im Management kursiert der Begriff: "Veränderungsmanagement".
Dabei wird ausgeklammert, dass es nicht nur um Veränderung gehen
kann. Denn schlechter werden ist auch eine Veränderung.
Wenn etwas verändert wird muss es zwingend zu einer Verbesserung
führen. Innovationsrhetorikern müssen das mit Resultaten zeigen.
Die Bemühungen bei unserer Volksschule in Richtung selbstorganisierte
Lernen missachtet die Erkenntnis, dass die Lehrperson bei den
Lernprozessen keine Nebenrolle, sondern eine
zentrale Rolle
spielt. Erziehungswissenschafter Reichenbach bringt es auf den Punkt:
"Klassenlehrer sind besonders bedeutsam. Was kann es Besseres für
ein Schulkind geben als eine Lehrperson, die dem Kind drei Dinge zeigt:
Erstens, dass das, was gelernt werden soll, wichtig ist. Zweitens, dass
der Schüler diesen Inhalt lernen kann. Drittens, dass der Lehrer
das Kind dabei unterstützt. Das sind die Elementarien!"