Professionelle Lippenleser, Bloggers, die Gespräche am
Fluch und jede Lästerei auf dem Platz live übersetzen. Auch
die deutsche Elf steht unter Beobachtung.
Eine berühmte Szene im Film Odyssee 2001. Astronaut "Dave" wird vom Computer "Hal"
nicht mehr reingelassen. Der Computer hatte ein vertrauliches Gespräch
von den Lippen ablesen können.
Völlig neu ist diese Entwicklung nicht - schon 2006 versuchten
Lippenleser zu enthüllen, was Marco Materazzi vor dem legendären
Zidane-Kopfstoss zu seinem Kontrahenten gesagt haben könnte. Und 2012
berichtete SPIEGEL ONLINE über die gehörlose Bloggerin Julia
Probst, die bei der Europameisterschaft von den Lippen der deutschen
Nationalelf las und später sogar als Expertin beim Bezahlsender
Sky anheuern sollte.
Während das Phänomen damals noch eher eine interessante
Randerscheinung war, hat das kickende Personal mittlerweile offenbar
verstanden, was die Dauerbeobachtung in Verbindung mit Medien wie Twitter
für den Weltfussball bedeutet - und sich für entsprechende
Gegenmassnahmen entschieden. Konspiratives Genuschel mit verdeckten
Lippen ist seither eine echte Massenerscheinung geworden - um mal in
die hohle Hand zu sprechen.
"Man beobachtet diesen Trend immer häufiger", bestätigt
Lippenleserin Probst in einer E-Mail an SPIEGEL ONLINE. Vor allem Profis,
die in Spanien ihr Geld verdienen, würden regelmässig ihre
Lippen beim Sprechen verdecken. Mesut Özil und Bastian Schweinsteiger
habe sie ebenfalls schon mit der Hand vor dem Mund erwischt.
Für Probst ist das lästig, denn über ihren Twitter-Account
gibt sie auch bei der WM 2014 live an rund 25.000
Follower weiter, was sie von den Lippen der Profis liest (Hashtag:
#ableseservice). Dank ihr wissen wir etwa, was Toni Kroos vor
Freistössen so zu seinen Teamkollegen rüberraunt ("Aber das
ist schwer. Ein Stück weiter#") oder was Thomas Müller dem
Portugiesen Pepe an den Kopf warf, bevor der Portugiese die Fassung
verlor und sich eine rote Karte einfing.
Ohnehin sei das Lippenlesen während der Live-Übertragungen
nicht einfach, berichtet Probst. "Ablesen auf so einem hohen Niveau und
über einen so langen Zeitraum erfordert extrem hohe Konzentration",
schreibt sie. "Oft bin ich hinterher so K.o., dass ich nur noch
schlafen will." Sie tröste sich damit, dass sie Menschen mit ihrem
Ableseservice für Barrierefreiheit und Inklusion sensibilisieren
könne.
Kommerziell ambitionierter und mit Unterstützung einiger Mitarbeiter
geht die Britin Tina Lannin die Mission Lippenlesen an. In London bietet
die Unternehmerin mit ihrer Firma 121captions Kommunikationshilfen
für Hörgeschädigte; während der WM übersetzte
ihr Team die Flüche, Ausrufe, Lästereien und Lamentos der
englischen Nationalelf live - ebenfalls per Twitter.