Ein Jahr vor seinem Tod hat Heinrich von Kleist den folgenden kleinen Text veröffentlicht. Er nennt
ihn Fragment:
"Man könnte die Menschen in zwei Klassen abteilen; in solche,
die sich auf eine Metapher und in solche, die sich auf eine Formel
verstehn. Deren, die sich auf beides verstehn, sind zu wenige, sie
machen keine Klasse aus."
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Das ist ein exemplarischer Akt der Klassifizierung. Und er betrifft gleich
alle Menschen. Die Kommentatoren sind vorwiegend der Meinung, Kleist
wolle hier die Wissenschaftler von den Künstlern unterscheiden.
Nun bilden aber Wissenschaftler und Künstler zusammengenommen nur
einen kleinen Teil der ganzen Menschheit. Die Aussage ist jedoch eine
übergreifend anthropolo-gische. Als solche betrifft sie auch die
Wissenschaftler, bei denen es folglich ebenfalls beide Klassen geben
muss, jene, die sich auf eine Metapher, und jene, die sich auf eine
Formel verstehen. Damit umreisst Kleist fast hundert Jahre vor Dilthey
die Trennung in zwei wissenschaftliche Kulturen.
Die Formel und die Metapher, je als ein Grundakt der Erkenntnis - kann
man das überhaupt gelten lassen? Ist denn die Metapher nicht der
Inbegriff des Verwaschenen, eine diffuse Aussage, die überdies im
Verdacht steht, alles zu beschönigen? Metaphern, heisst es, sind
etwas für lyrische Seelen, die lieber fühlen als denken. Das
ist ein Irrtum. Die Metapher ist eine hochkomplexe intellektuelle
Operation mit einem Effekt von geschliffener Präzision. Als Kennedy
seine Rede in Berlin hielt - ich hörte sie damals live am Radio -
und unerwartet ausrief: "Ich bin ein Berliner", schien die Stadt im
Bruchteil einer Sekunde zu -explodieren. Ein einziger Jubelschrei stieg
zum geteilten Himmel. Das war eine Metapher, aber alles andere als eine
diffuse Aussage. Jeder hatte verstanden. Es war der genauestmögliche
Ausdruck für ein vielschichtiges politisches Programm. Wenn wir das,
was Kennedy damit mitteilte, ausformulieren müssten, würde
ein langer Text entstehen.
(...)
Dass die Metapher auch im wissenschaftlichen Diskurs ihre Funktion hat,
zeigt eines der berühmtesten Beispiele des 20.Jahrhunderts. Es
zirkuliert als vereinfachtes Zitat und lautet: "Gott würfelt nicht."
Historisch gesichert ist die Formulierung in einem Brief Albert Einsteins
an Max Born über die Quantenmechanik: "Die Theorie liefert viel,
aber dem Geheimnis des Alten bringt sie uns kaum näher. Jedenfalls
bin ich überzeugt, dass der nicht würfelt." Mit dem Alten
ist Gott gemeint, aber nicht als theologisches Bekenntnis. Es geht
vielmehr um die innersten Gesetzmässigkeiten der Materie. Der Alte
ist also Teil der Metapher. Ob Einstein mit dieser Aussage recht oder
unrecht hatte, wissen die Fachleute. Wichtig ist hier nur, dass auch die
Naturwissenschaftler auf die Dauer nicht ohne Metaphern auskommen. Ist
doch sogar der Big Bang eine solche.
Wenn wir versuchen, Schlüsselmetaphern, die einen komplexen
Zusammenhang auf den Punkt bringen, auszuformulieren, entdecken wir,
dass die Metapher im Grunde eine komprimierte -Erzählung ist, eine
Schilderung, die auf ein paar Wörter schrumpft. Wenn ich von jemandem
sage: "Er ist ein Don Quijote", dann schrumpft dabei sogar ein Roman von
tausend Seiten auf ein paar Wörter zusammen. Wer sich auf Metaphern
versteht, versteht sich also auf das Erzählen. Damit aber tut sich
eine immense wissenschaftsgeschichtliche Perspektive auf. Das Ordnen
der Welt begann einst mit den Erzählungen von ihrem Anfang und
ihrem Untergang. Erzählen ist nie der Abklatsch eines verworrenen
Ganzen, Erzählen ist die Übersetzung eines verworrenen Ganzen
in ein Modell. Als ein Modell ist die Erzählung die ältere
Schwester der Theorie. Und wenn eine Theorie schliesslich vom Modell
zur Formel vorstösst, wirkt darin immer noch die ordnende Kraft
der Erzählung fort. Daher hat eine Formel wie E#=#mc˛ die gleiche
geschliffene Präzision wie eine Metapher, der es gelingt, eine
komplexe Gegebenheit auf einen Ausdruck zu verdichten.