Aus dem
Beobachter Ratgeber:
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Kritik hat 100 Gesichter. Die eine erkennt man kaum, die nächste
klingt wie eine Drohung, wieder eine andere ist beleidigend. Ebenso
gross ist die Vielfalt beim Umgang mit Kritik. Der eine nimmt den
Hinweis des Arbeitskollegen, im Protokoll habe es Schreibfehler,
dankbar entgegen. Der andere reagiert unwirsch, weil er ausschliesslich
gutes Feedback auf seine Arbeit gewohnt ist. Während die eine es als
Kompliment sieht, wenn der Freund sagt, sie habe einen Hang, wirklich
immer alles ins Detail zu planen, löst allein das Wort "immer"
andernorts eine Beziehungskrise aus.
Wie jemand auf Kritik reagiert, hängt davon ab, ob er oder sie den
Umgang damit vorgelebt bekommen hat, und davon, wie sehr man sich mit
dem kritisierten Punkt identifiziert. Allerdings tun sich Schweizerinnen
und Schweizer generell eher schwer mit Kritik. "Ob es ums Austeilen oder
Einstecken geht - wir haben keine Kritikkultur", beobachtet Christoph
Negri vom Institut für Angewandte Psychologie der Zürcher Hochschule
für Angewandte Wissenschaften.
Doch es nützt nichts: Im Beruf wie im Privaten kommt man nicht umhin,
zwischendurch Dinge anzusprechen, die stören: den Schweissgeruch des
Arbeitskollegen, die viel zu langen Sitzungen der Chefin, den saloppen
Umgangston des Angestellten mit Kunden. Ebenso kommt es vor, dass
man selbst mit Kritik konfrontiert wird - weil es den Freund nervt,
dass er immer kochen muss, oder weil die Arbeitskollegin es nicht in
Ordnung findet, dass man den Hund mit ins Büro nimmt. Der Zürcher
Kommunikationsexperte Marcus Knill trifft immer wieder auf die gleichen
Fehler, wenn er Manager, Politiker, Lehrpersonen und Schüler in Sachen
Kritik schult. Kritikfähigkeit brauche vor allem eins: "Uebung." Mit
ein paar einfachen Regeln legt man die Basis dafür.
Nichts kommt schlechter an beim Gegenüber als Schelte vor anderen.
Niemand wird gern vor Gästen in den Senkel gestellt, weil er die
Socken "immer" im Bad liegenlässt, und niemand findet es toll, wenn
der Chef vor versammelter Belegschaft auf einen Fehler hinweist, den
man gemacht hat. Man ist peinlich berührt, und sofort ist das Gefühl
da, vorgeführt zu werden. Schnell ist der Schluss gezogen, boshafte
Absicht liege hinter dem Vorgehen.
Dabei wäre es einfach: Wer kritisieren will, macht dies immer unter
vier Augen. Im Idealfall informiert er die Person vorher, umreisst grob,
worum es geht, und macht einen Zeitpunkt ab für ein Gespräch. Das gibt
beiden Parteien die Möglichkeit, sich vorzubereiten. Aussprachen macht
man mündlich und nicht schriftlich, sagt Experte Knill. "Es ist ein
Irrglaube, dass wir uns in einem Brief überlegter äussern." Nur
im Gespräch habe man die Möglichkeit, detailliert nachzufragen und
die Angelegenheit auszudiskutieren. Bei schriftlicher Kritik fielen
ausserdem Tonfall und Körpersignale weg. Diese seien aber wichtig,
damit die Mitteilung richtig ankomme.
Oft beginnt Kritik mit einem netten Satz wie: "Grundsätzlich machst
du deine Arbeit super..." Das hat Tücken. Das Gegenüber merkt sofort,
ob die Aussage ernst gemeint oder nur dahergesagt ist. Knill:
"Weiss man nichts Positives zu sagen, hält man sich besser gleich an
die Fakten."
Er schlägt vor, das Wesentliche in 30 Sekunden sachlich auf den Punkt
zu bringen. Dazu gehören beschreibende Angaben: Was konkret ist der
Kritikpunkt? Wann genau kam die Person zu spät? Welche Vorgabe erfüllte
sie wann nicht? Verallgemeinerungen sind fehl am Platz: Jemanden als
"faul" zu bezeichnen ist kontraproduktiv.
Die Fachleute Negri und Knill sind sich einig: Kritik bringt uns weiter,
durch sie können wir uns verbessern. Aber das funktioniere nur, wenn
sie nicht als Bedrohung wahrgenommen werde. Der Kritisierende
- aber auch der Kritisierte in seiner Reaktion - muss also den
richtigen Ton treffen. Es hilft laut Knill, locker ins Gespräch zu gehen
und sich genug Zeit zu lassen. Wer kurz vor dem Mittagessen und mit einem
Loch im Bauch eine Grundsatzdiskussion mit dem Partner führen will,
riskiert, dass die Kritik falsch ankommt. Klingelt das Handy während
des Gesprächs dreimal, ist das ebenfalls wenig förderlich. Ausserdem
sollte man vor Augen haben: Ziel ist es, etwas zu verändern. Beide
Parteien sollen beim Treffen Lösungsvorschläge bringen, damit die
Kritik nicht ohne Folgen bleibt.
Kritik kann einen ziemlich aus der Bahn werfen. "Manchmal geraten
ganze Wertesysteme ins Wanken", sagt Negri. In der Folge verschliessen
sich viele Kritisierte, werden wütend oder flüchten gar aus dem
Gespräch. Solche Reaktionen seien normal. "Man sollte dem Gegenüber
Zeit geben, sich mit dem Gesagten auseinanderzusetzen." Manchmal sei
ein zweiter Termin eine gute Variante.
Will man bei Kritik locker und souverän bleiben, gilt es, tief
durchzuatmen "und genau zuzuhören", rät Kommunikationsexperte
Knill. "Sofortiges Kontern und Rechtfertigen bringt meist wenig.
Stattdessen wartet man ab, fasst das Gehörte zusammen und findet heraus,
ob man die Kritik richtig verstanden hat. Ist man unsicher, fragt man
nach." Dann erst folgt die Reaktion. Das kann laut den Experten ruhig
ein Satz wie dieser sein: "Das ist happig, das muss ich mir erst durch
den Kopf gehen lassen." Wichtig ist, das Thema im ersten oder in einem
Folgegespräch abzuschliessen. Negri: "Sonst schwingt es immer mit und
belastet die Beziehung."
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"Sie sind unfähig!" Der Chef brüllt den Mitarbeiter in der Sitzung an,
wirft ihm Fehler vor. Der Angestellte hört zu, schreit auf keinen Fall
zurück. Er unterbricht den Vorgesetzten und beschreibt mit ruhiger
Stimme sachlich, was gerade passiert: "Sie schreien und greifen mich
persönlich an." Am Schluss fasst er zusammen, was bei ihm angekommen
ist, rechtfertigt sich aber nicht, sondern sagt: "Das sind schwere
Vorwürfe. Ich muss das sich setzen lassen. Können wir uns morgen
unter vier Augen treffen? Welche Zeit passt Ihnen?"
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"Geh mal wieder duschen!" Der Arbeitskollege riecht äusserst streng. An
einem Apero unterhält sich der Praktikant mit ihm und muss sich immer
wieder abwenden. Der junge Mann beschliesst, den Kollegen darauf
anzusprechen. Der Anlass mit vielen Leuten ist dafür der falsche
Ort. Er sagt: "Du, ich habe da etwas, von dem ich glaube, du wärst
froh, wüsstest du es. Aber es ist recht persönlich. Hättest du morgen
Zeit für einen Kaffee?" Die beiden treffen sich an einem Ort, an dem
sie nicht von Bürokollegen gestört werden. Praktikant: "Gestern am
Apero hatten wir ein interessantes Gespräch. Mir ist dabei aufgefallen,
dass du recht stark nach Schweiss gerochen hast. Das habe ich am Montag
schon mal bemerkt. Ich finde, du solltest etwas dagegen tun."
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"Du meckerst immer herum!" Ein Ehepaar unterhält sich angeregt. Er sagt:
"Du musst immer herummeckern, es ist schrecklich!" Ihr kommt die Galle
hoch. Doch dann entscheidet sie sich für einen anderen Weg. In nettem
Ton fragt sie nach: "Meinst du wirklich ? Oder redest du von
heute morgen, als ich sagte, du sollst deine Kaffeetasse nicht auf dem
Tisch stehenlassen?"
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"Sie sind ungerecht!" Die Schülerin findet die Note in Physik völlig
daneben. Der Lehrer hat ihrer Ansicht nach nicht berücksichtigt,
dass sie wegen einer Grippe weniger Zeit zum Lernen hatte als die
anderen. Dabei wusste er von ihrer Erkrankung! Statt ihn, gleich als
sie die Prüfung zurückerhält, mürrisch anzusprechen, wartet sie
nach der Stunde, bis
alle gegangen sind. Sie sagt kurz, dass es um die Prüfungsnote geht,
und fragt, ob er jetzt oder später Zeit habe. Im Gespräch unter vier
Augen zählt sie die zuvor zurechtgelegten Argumente auf, weshalb
sie eine bessere Note verdient hätte. Ihre Stimme ist sachlich,
nicht vorwurfsvoll.
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