Die Rede "Der Aufstand des Gewissens"
vom Schweizer Soziologen Jean Ziegler zur Eröffnung der Salzburger Festspiele 2011
wurde dort zwar nie gehalten, sie hat jedoch auf
Youtube
und in Buchform viel Verbreitung und Beachtung gefunden.
Ziegler zeigt darin Zusammenhänge auf, wie zum Beispiel dass die
Finanzkrise dazu geführt hat, dass die Finanzwelt heute von Papierwerten
mehr und mehr auf Kommoditaeten wie Nahrungsmitteln umgestiegen sind, und damit auch die
Nahrungspreise erhöht werden. Länder wie Äthopien versinken einerseits
in den Schulden. Lokale Agrarprodukte sind dort viel teurer als importierte, was
Bauern um ihren Lebensunterhalt bringt. Ziegler spricht in klaren Worten und scheut auch nicht
vor Soundbites zurück:
Kapital ist immer und überall stärker als Kunst.
Heutige Konzerne haben mehr Macht wie es je ein Kaiser, König oder Papst in der Geschichte.
Gegen das eherne Gesetz der Kapitalakkumulation sind selbst Beethoven und Hofmannstal machtlos.
Theoretisch gibt es in diesem Jahrtausend keinen Mangel. Ein Kind, das heute an Hunger stirbt, wird ermordet.
Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren.
Viele der Schönen und Reichen sitzen in Salzburg. Sie sind aber auch Verursacher einer kanibalischen Weltordnung
Ich habe einen Traum: Musik, Dichtung, Poesie oder Theater transportiert die Menschen jenseits ihrer selbst.
Rhetorische Stilmittel beinhalten auch "Ein Traum". Das ist sicher auch eine Anlehnung
an die Rede Ich habe einen Traum vom
amerikanischen Bürgerrechtler Martin Luther King.
Die Ausladung Zieglers ist wenig erstaunlich, klagt er doch darin
Reiche und Mächtige an, die auch hauptsächlich die Kunden der Festspiele sind.
Das Seminar für Allgemeine Rhetorik
der Universität Tübingen hat nun die Rede
ausgezeichnet. Sie schreiben:
Die wörtlich wie sprichwörtlich ungehaltene Rede unterläuft
wie viele grosse Reden die Konventionen: An die Stelle einer festlichen,
höchstens an manchen Stellen ein wenig nachdenklichen oder mahnenden
Wohlfühlrede, wie sie oft genug gehalten wird, setzt Ziegler einen
aufrüttelnden Appell, ja, eine Provokation. Ganz ohne Umschweife
beginnt er mit dem Satz: Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind, der
dann weitergeführt wird zur ungewohnt deutlichen These: Ein Kind,
das an Hunger stirbt, wird ermordet. Die dramatische Lage verdeutlicht
der ehemalige UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung
anhand zahlreicher Beispiele aus Ostafrika. Gerade die sachliche,
aber keineswegs emotionslose Schilderung der verschiedenen Stadien des
Hungertods unterstreicht die Dringlichkeit des Appells und verdeutlicht
zugleich das leidenschaftliche Engagement des Redners selbst.
Jean Zieglers nicht gehaltene Rede zur Eröffnung der Salzburger
Festspiele ist von Rhetorikern der Universität Tübingen als
"Rede des Jahres 2011" ausgewählt worden. Der Genfer Soziologe
richtet schwere Vorwürfe an Leiter von Grosskonzernen und -banken.
Der ehemalige UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung
macht in seinen Ausführungen unter anderem gewissenlose Akteure des
Finanzkapitalismus für die Hungersnot in Ostafrika verantwortlich.
"An die Stelle einer festlichen, höchstens an manchen Stellen ein
wenig nachdenklichen oder mahnenden Wohlfühlrede, wie sie oft genug
gehalten wird, setzt Ziegler einen aufrüttelnden Appell, ja, eine
Provokation", erklärte die Jury zur Preisvergabe.
(...)
Mit der undotierten Auszeichnung würdigt das von Walter Jens
gegründete Seminar für Allgemeine Rhetorik jedes Jahr eine
Rede, die die politische, soziale oder kulturelle Diskussion entscheidend
beeinflusst hat. Frühere Preisträger waren etwa Papst Benedikt
XVI., SPD-Chef Sigmar Gabriel oder der Dramatiker Rolf Hochhuth.
"Der Aufstand des Gewissens"
Jean Ziegler
Sehr verehrte Damen und Herren,
alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren.
37.000 Menschen verhungern jeden Tag und fast eine Milliarde sind
permanent schwerstens unterernährt. Und derselbe World-Food-Report
der FAO, der alljährlich diese Opferzahlen gibt, sagt, dass die
Weltlandwirtschaft in der heutigen Phase ihrer Entwicklung problemlos
das Doppelte der Weltbevölkerung normal ernähren könnte.
Schlussfolgerung: Es gibt keinen objektiven Mangel, also keine
Fatalität für das tägliche Massaker des Hungers, das in
eisiger Normalität vor sich geht. Ein Kind, das an Hunger stirbt,
wird ermordet.
Gestorben wird überall gleich. Ob in den somalischen
Flüchtlingslagern, den Elendsvierteln von Karachi oder in den Slums
von Dhaka, der Todeskampf erfolgt immer in denselben Etappen.
Bei unterernährten Kindern setzt der Zerfall nach wenigen Tagen ein.
Der Körper braucht erst die Zucker-, dann die Fettreserven auf.
Die Kinder werden lethargisch, dann immer dünner. Das Immunsystem
bricht zusammen. Durchfälle beschleunigen die Auszehrung.
Mundparasiten und Infektionen der Atemwege verursachen schreckliche
Schmerzen. Dann beginnt der Raubbau an den Muskeln. Die Kinder können
sich nicht mehr auf den Beinen halten. Ihre Arme baumeln kraftlos am
Körper. Ihre Gesichter gleichen Greisen. Dann folgt der Tod. Die
Umstände jedoch, die zu dieser tausendfachen Agonie führen,
sind vielfältig und oft kompliziert.
Ein Beispiel: die Tragödie, die sich gegenwärtig (Juli
2011) in Ostafrika abspielt. In den Savannen, Wüsten, Bergen
von Äthiopien, Djibouti, Somalia und Tarkana (Nordkenia) sind 12
Millionen Menschen auf der Flucht. Seit fünf Jahren gibt es keine
ausreichende Ernte mehr. Der Boden ist hart wie Beton. Neben den trockenen
Wasserlöchern liegen die verdursteten Zebu-Rinder, Ziegen, Esel
und Kamele. Wer von den Frauen, Kindern, Männern noch Kraft hat,
macht sich auf den Weg in eines der vom UNO-Hochkommissariat für
Flüchtlinge und vertriebene Personen eingerichteten Lager.
Zum Beispiel nach Dadaad, auf kenianischem Boden. Dort drängen sich
seit drei Monaten über 400'000 Hungerflüchtlinge.
Die meisten stammen aus dem benachbarten
Südsomalia, wo die mit Al-Quaida verbundenen fürchterlichen
Chebab-Milizen wüten. Seit Juni treten täglich rund 1500
Neuankömmlinge aus dem Morgennebel. Platz im Lager gibt es schon
lange nicht mehr. Das Tor im Stacheldrahtzaun ist geschlossen. Vor dem
Tor führen die UNO-Beamten die Selektion durch: Nur noch ganz wenige
-die, die eine Lebenschance haben - kommen hinein. Das Geld für die
intravenöse therapeutische Sondernahrung, die ein Kleinkind, wenn
es nicht zu sehr geschädigt ist, in 12 Tagen ins Leben zurück
bringt, fehlt. Das Geld fehlt. Das Welternährungsprogramm,
das die humanitäre Soforthilfe leisten sollte, verlangte am 1.
Juli für diesen Monat einen Sonderbeitrag seiner Mitgliedstaaten
von 180 Millionen Euro. Nur 62 Millionen kamen herein. Das normale
WPF (World-Food-Programm) Budget betrug 2008 sechs Milliarden Dollar.
2011 liegt das reguläre Jahresbudget noch bei 2,8 Milliarden. Warum?
Weil die reichen Geberländer - insbesondere die EU-Staaten, die USA,
Kanada und Australien -viele tausend Milliarden Euro und Dollars ihren
einheimischen Bank-Halunken bezahlen mussten: zur Wiederbelebung des
Interbanken- Kredits zur Rettung der Spekulations-Banditen. Für die
humanitäre Soforthilfe (und die reguläre Entwicklungshilfe)
blieb und bleibt praktisch kein Geld.
Wegen des Zusammenbruchs der Finanzmärkte sind die Hedgefonds
und andere Gross-Spekulanten auf die Agrarrohstoffbörsen (Chicago
Commodity Stock Exchange, u.a.) umgestiegen. Mit Termingeschäften,
Futures, etc. treiben sie die Grundnahrungsmittelpreise in astronomische
Höhen.
Die Tonne Getreide kostet heute auf dem Weltmarkt 270 Euro. Ihr Preis
lag im Jahr zuvor genau bei der Hälfte. Reis ist um 110% gestiegen.
Mais um 63%. Was ist die Folge? Weder Äthiopien, noch Somalia,
Djibouti oder Kenia konnten Nahrungsmittelvorräte anlegen -obschon
die Katastrophe seit fünf Jahren voraussehbar war.
Dazu kommt: Die Länder des Horns von Afrika werden von ihren
Auslandsschulden erdrückt. Für Infrastrukturinvestitionen
fehlt das Geld. In Afrika südlich der Sahara sind lediglich 3,8%
des bebaubaren Bodens künstlich bewässert. In Wollo, Tigray
und Shoa auf dem äthiopischen Hochland, in Nordkenia und Somalia
noch weniger. Die Dürre tötet ungestört. Diesmal wird
sie viele Zehntausende töten.
Viele der Schönen und der Reichen, der Grossbankiers und der
Konzern-Mogule dieser Welt kommen in Salzburg zusammen. Sie sind die
Verursacher und die Herren dieser kannibalischen Weltordnung.
Was ist mein Traum? Die Musik, das Theater, die Poesie -kurz: die Kunst
-transportieren die Menschen jenseits ihrer selbst. Die Kunst hat Waffen,
welche der analytische Verstand nicht besitzt: Sie wühlt den
Zuhörer, Zuschauer in seinem Innersten auf, durchdringt auch die
dickste Betondecke des Egoismus, der Entfremdung und der Entfernung.
Sie trifft den Menschen in seinem Innersten, bewegt in ihm ungeahnte
Emotionen. Und plötzlich bricht die Defensiv-Mauer seiner
Selbstgerechtigkeit zusammen. Der neoliberale Profitwahn zerfällt
in Staub und Asche.
Ins Bewusstsein dringt die Realität, dringen die sterbenden Kinder.
Wunder könnten in Salzburg geschehen: Das Erwachen der Herren der
Welt. Der Aufstand des Gewissens! Aber keine Angst, dieses Wunder wird
in Salzburg nicht geschehen!
Ich erwache. Mein Traum könnte wirklichkeitsfremder nicht sein!
Kapital ist immer und überall und zu allen Zeiten stärker
als Kunst. "Unsterbliche gigantische Personen" nennt Noam Chomsky
die Konzerne. Vergangenes Jahr -laut Weltbankstatistik - haben die
500 grössten Privatkonzerne, alle Sektoren zusammen genommen,
52,8% des Welt-Bruttosozialproduktes, also aller in einem Jahr auf der
Welt produzierten Reichtümer, kontrolliert. Die total entfesselte,
sozial völlig unkontrollierte Profitmaximierung ist ihre Strategie.
Es ist gleichgültig, welcher Mensch an der Spitze des Konzerns steht.
Es geht nicht um seine Emotionen, sein Wissen, seine Gefühle.
Es geht um die strukturelle Gewalt des Kapitals. Produziert er dieses
nicht, wird er aus der Vorstands-Etage verjagt.
Gegen das eherne Gesetz der Kapitalakkumulation sind selbst Beethoven und
Hofmannsthal machtlos. "L'art pour l'art" hat Théophile Gautier
Mitte des 19. Jahrhunderts geschrieben. Die These von der autonomen, von
jeder sozialen Realität losgelösten Kunst, schützt die
Mächtigen vor ihren eigenen Emotionen und dem eventuell drohenden
Sinneswandel.
Die Hoffnung liegt im Kampf der Völker der südlichen
Hemisphäre, von Ägypten und Syrien bis Bolivien, und im
geduldigen, mühsamen Aufbau der Radikal-Opposition in den westlichen
Herrschaftsländern. Kurz: in der aktiven, unermüdlichen,
solidarischen, demokratischen Organisation der revolutionären
Gegengewalt. Es gibt ein Leben vor dem Tod. Der Tag wird kommen, wo
Menschen in Frieden, Gerechtigkeit, Vernunft und Freiheit, befreit von
der Angst vor materieller Not, zusammenleben werden.
Mutter Courage, aus dem gleichnamigen Drama von Bertolt Brecht,
erklärt diese Hoffnung ihren Kindern:
"Es kommt der Tag, da wird sich wenden
Das Blatt für uns, er ist nicht fern.
Da werden wir, das Volk, beenden
Den grossen Krieg der grossen Herrn.
Die Händler, mit all ihren Bütteln
Und ihrem Kriegs-und Totentanz
Sie wird auf ewig von sich schütteln
Die neue Welt des g'meinen Manns.
Es wird der Tag, doch wann er wird,
Hängt ab von mein und deinem Tun.
Drum wer mit uns noch nicht marschiert,
Der mach sich auf die Socken nun."
Ich danke Ihnen Jean Ziegler
Jean Ziegler: "Der Aufstand des Gewissens. Die nicht-gehaltene
Festspielrede 2011." Ecowin Verlag 2011, 16 Seiten.