Heiner Geissler wollte im festgefahrenen Streit um Stuttgarts Tiefbahnhof
schlichten - und zitierte unbedacht Goebbels. Ein Medienwirbel war
vorprogrammiert. Immer wieder zeigt sich, dass es sich lohnt, auf jegliche
Vergleiche im Zusammenhang mit Nazideutschland zu verzichten. Alle, die das
getan hatten,verbrannten sich die Finger. Das hätte Mediator Geissler wissen
müssen, zumal er sich früher gegen jegliche Vergleiche mit Nazigrössen zur
Wehr gesetzt hatte.
Geissler hätte sich sofort entschuldigen müssen.
Statt dessen stritt er zuerst ab, gewusst zu haben, dass dieses Zitat
Goebbel zugeordnet wird. Er machte sich damit unglaubwürdig.
Später verteidigte er sich und erklärte nun plötzlich,
er habe die Zuspitzung bewusst gewählt, um zu verdeutlichen, dass
es in Stuttgart eine friedliche Lösung brauche.
Er meinte: Oft müsse man etwas zuspitzen, um gehört zu werden.
FDP-Generalsekretärin Gabriele Heise wirft Heiner Geissler vor,
die Relationen zu verlieren. "Die Aufhetzung unter dem Unrechtsregime
der Nazis eignet sich nicht für launige Vergleiche", sagte sie
und fügte bei: "Mit diesem Vergleich diskreditiert er alle, die
friedlich von ihrem Demonstrationsrecht Gebrauch machen."
Der schlimmer Fehler in dieser heiklen Situation ist auch Geisslers Bemerkung
über die Reaktion der Medien. Geissler kritisierte die Medien mit der
Bemerkung:
"Jedes Mal, wenn man etwas aus der Nazi-Zeit auch nur erwähnt, werden
manche Leute nervös und verrückt".
(Quelle:
Focus.) Er verteidigt sich dann mit "Wenn ich in der Nähe von Goebbels bin,
ist der Playboy das Mitteilungsblatt des Vatikans."
Diese Geschichte zeigt, dass sogar
erfahrene Konfliktschlichter oder intelligente Politiker
sich mit einem Zitat das Bein stellen können. Der "Spiegel":
Er wollte die Parteien im S-21-Streit zur Besinnung
bringen - und fragte:
"Wollt ihr den totalen Krieg?" Ein Goebbels-Zitat,
jeder weiss das. Doch
Heiner Geissler rechtfertigt die grauenhaften
Worte sogar. Jetzt bleibt dem Schlichter nur eines: eine doppelte
Entschuldigung.
Zunächst das: Jeder sagt oder schreibt einmal Blödsinn,
und wer viel öffentlich redet oder schreibt, läuft eine viel
höhere Gefahr als andere, dass ihm oder ihr das mal passiert. Es sind
diese Momente, in denen man am liebsten auf eine unsichtbare Delete-Taste
drücken und das Gesagte löschen möchte.
Diese Delete-Taste gibt es nicht, in unserer Wallungsdemokratie
sowieso nicht. Gesagt ist gesagt. Aber es gibt eine, und nur eine
Möglichkeit, Unfug wieder einigermassen einzufangen: indem man sich
so schnell wie möglich hinstellt und sagt, dass man da Blödsinn
gesagt oder geschrieben hat.
Deswegen hat Heiner Geissler den entscheidenden Fehler
nicht am vergangenen Freitag bei der Pressekonferenz zu Stuttgart 21
gemacht, als er die Kontrahenten um den Zank-Bahnhof gefragt hat, ob
sie denn "den totalen Krieg" wollten. Noch schlimmer war der Fehler,
den Geissler drei Tage später machte, als er er versuchte, diesen
blöden Satz zu rechtfertigen, wo es nur eine Möglichkeit
gegeben hätte: sich für ihn zu entschuldigen.
Man hört sich die Audio-Datei wieder und wieder an
und fragt sich, wie ein Mann von der politischen Erfahrung und der Lebenserfahrung
eines Heiner Geissler derart Amok laufen kann. Er behauptet allen
Ernstes, nicht zu wissen, dass dieses Zitat von Joseph Goebbels
stammt. Jedes einigermassen geschulte Kind kennt diesen Stakkato-Ruf des Demagogen, auf den eine
besinnungslose Masse ein "Ja!" zurückbrüllt. Er ist festgehalten
im Audio-Speicher eines jeden halbwegs gebildeten Zeitgenossen, nicht
nur in Deutschland, sondern weltweit. Dafür gibt es auch kein Delete.
Er versucht, sich mit kruden Vergleichen (in Syrien sei derzeit auch
ein "totaler Krieg", "den Begriff hat schon Winston Churchill verwendet
und der Prinz Heinrich von Preussen an Friedrich den Grossen") aus der
Affäre zu ziehen, und argumentiert weiter, er habe mit dieser
Holzhammermethode die Halsstarrigen quasi per Schocktherapie zur
Räson bringen wollen.
Weises Alter geniesst hohen Respekt in unserer Gesellschaft. Aber der
Fall Geissler zeigt: Alter (und eine umfassende humanistisch-jesuitische
Bildung) schützt vor Torheit nicht. Zumal er selbst schon Mitte
der achtziger Jahre mit Goebbels-Vergleichen konfrontiert war.
Einmal davon abgesehen, dass sich Argument eins (er weiss nicht,
dass das Zitat von Goebbels ist) und Argument drei (er wollte
schockieren) wechselseitig ausschliessen. Der einzige wirklich
Halsstarrige, der hier im Moment zu erleben ist, ist nicht der
härteste oder bornierteste Vertreter im Streit um Stuttgart 21,
sondern der bislang von Gegner und Befürwortern umjubelte Schlichter Heiner Geissler.
Er sollte jetzt, besser in den kommenden Minuten oder Stunden als erst in
den nächsten Tagen, zur Räson kommen und sagen: Ich habe einen
Fehler gemacht, und dann habe ich einen noch viel grösseren Fehler
begangen, als ich den ersten Fehler hanebüchen rechtfertigen wollte.
Das fällt schwer. Aber das muss jetzt sein. Sonst gab es einmal
einen grossen Politiker Heiner Geissler.
Quelle: Focus