Vor Jahren wurden Pädagogen, die Inhalte auswendig lernen pflegten,
von den zeitgemässen Kollegen belächelt. So wie es keinen
Frontalunterricht mehr geben durfte, war jegliches Memorieren tabu.
Nun scheint die Wissenschaft erkannt zu haben, dass im Zeitalter des
Interets die Förderung der Gedächtnisleistung wieder einen
neuen Sinn bekommt. In der Campus Beilage NZZ wurde diese Thematik am 15. Juli
beleuchtet:
Erinnerungen können sich zu neuen, spannenden Ideen
verknüpfen. Man muss sie aber erst einmal in den Kopf
abfüllen. (Bild: Falko Ohlmer) Lernstoff auswendig lernen gilt leider
heute oft als aufreibend und sinnlos. Wozu im Zeitalter des Internets
das Gedächtnis anstrengen? Memorieren kann aber unterhaltsam sein -
und hat seine Vorteile.
Es ist wie eine allergische Reaktion, die ganze Studentenscharen
befällt. Kaum heisst es "bitte auswendig lernen" folgt die
Abwehrhaltung. Wozu braucht man all den Stoff? Im Beruf wird man die
Fakten eh per Mausklick und nicht per Gedächtnis herbeizaubern. Und
kaum hat man das memorierte Wissen bei der Prüfung abgespult,
scheint der Stoff aus der Erinnerung verschwunden.
Tatsächlich aber ist das Gedächtnis weder so schwer in den
Griff zu kriegen noch so leistungsschwach wie wir annehmen. Das Problem
ist nur: Wir trauen ihm nichts mehr zu. Im Zeitalter von elektronischen
Erinnerungsfunktionen und Adressbüchern wird das Gedächtnis ein
Opfer des Outsourcing. Schliesslich, so scheint es, ist es wesentlich
einfacher die Maschinchen machen zu lassen als das eigene Gehirn.
Der Beitrag von
Anna Gielas macht bewusst, dass dem Gedächtnis in unserem Leben
eine tragende Rolle im gesellschaftlichen Leben zukommt. Wer früher
als kultiviert gelten wollte, lernte die Werke von der ersten bis zur
letzten Seite auswendig. Das geschriebenen Wort war lediglich eine
Stütze zu: "Die Dinge werden in Büchern niedergeschrieben,
um dem Gedächtnis zu helfen", hielt Thomas von Aquin in seiner
"Summa theologica" fest.
Im antiken Griechenland führte Simonides von Keos die
Gedächtniskunst - Mnemonik - ein. Sein simpler Rat entsprach den
heutigen Erkenntnissen: Wenn wir uns an etwas erinnern wollen, müssen
wir die Gedanken Bildern zuordnen. Wenn die Bilder gedanklich in ein
vertrautes Gebäude gesetzt werden, lassen sie diese Bilder nachher
auswendig wieder abrufen. Das Erinnern wird zu einem imaginären
Gang durch diese Räume. Diese sogenannte Loci-Methode funktioniert
erstaunlich gut. Es ist eine Eigenart des Gedächtnisses, dass
wir visuelle und räumliche Informationen besonders gut speichern
können.
Die Methode wird noch heute als Strategie der Sieger nationaler und
internationaler Gedächtnis-Meisterschaften angewendet. Visualisierung
ist ihr Schlüssel.
Wir können von Gedächtnis-Profis lernen. Die Bildung von
Schlüssel- und Brückenbegriffen ist eine weitere Hilfe.
Wir können einzelne Kapitel mit bereits gelerntem Stoff
verknüpfen und somit das Erinnern erleichtern. Wenn es sich
nicht um ganze Bücher, sondern um überschaubare Mengen des
Lernstoffs handelt, ist auch das Auswendig lernen durch regelmässige
Wiederholung zu empfehlen. Denn das Gedächtnis zu fördern
und ihm ruhig mal etwas zuzutrauen zahlt sich nicht nur im Examen aus:
Erinnerungen können sich zu neuen, spannenden Ideen verknüpfen,
denn Kreativität schöpft stets aus dem Alten, bereits
Vorhandenen.
Es ist bekannt, dass ein Schauspieler seitenweise Texte
auswendig speichern kann. Dies ist jedoch ohne Training nicht
möglich. Auch Namen können auswendig gelernt werden, indem
gezielt Eselsbrücken genutzt werden. Diese Merkfähigkeit
kann gelernt werden. Ein Medizinstudent sagte mir, wer nicht gelernt hat,
Medikamente und Begriffe aus der Anatomie automatisch abzurufen, der hat
Probleme bei Prüfungen. Er habe sich während des Studiums das
Gedächtnis bewusst gefordert und trainiert.
Viele Schüler sagen sich, dass man ja im Zeitalter des Internets
alles abrufen könne und es völlig sinnlos sei, Flüsse,
Seen oder Städte ( analog der Briefträgergeografie) auswendig
zu lernen. Diese Kritiker sind sich nicht bewusst, dass jedes noch so
sinnlose Training von Namen, Texten oder Fremdwörtern, beitragen
kann, die Merkfähigkeit zu verbessern.
Quellen: