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www.rhetorik.ch aktuell: (19. Dez, 2010)

Krisenkommunikation ohne Vermutungen

Rhetorik.ch Artikel zum Thema:
Der Blick-online titelte: Paraplegie-Arzt: "Rechne mit Querschnitts-Lähmung" Wenn wir jedoch das Interview genau lesen, stellen wir fest, dass der Arzt es so nicht gesagt hat. Es war der fragwürdige Titel, der unprofessionell war. Aus dem Interview:

Nach Samuel Kochs Horror-Sturz bei "Wetten dass..?" rechnet Dr. Michael Baumberger, Chefarzt im Schweizer Paraplegiker-Zentrum Nottwil, mit dem Schlimmsten:

  • Was sagen Sie zum Unfall in der Sendung "Wetten dass..?"?
  • Vieles deutet darauf hin, dass es sich um eine Tetraplegie handelt. Ein Indiz dafür ist die Bewegung des Kopfes nach dem Aufprall.
  • Was konkret bedeutet Tetraplegie?
  • Tetraplegie ist eine Querschnittslähmung ab der Höhe des 4. bis 6. Halswirbels. Sie wird unterschiedlich klassifiziert. Ich gehe davon aus, dass es sich um eine komplette Tetraplegie oder eine mit schweren Ausfällen handelt.
  • Kann sich das wieder erholen?
  • Bei einer kompletten Tetraplegie, also bei einer kompletten Durchtrennung des Rückenmarks, gibt es keine Heilung.
Michael Baumberger kann kein Kommunikationsfehler vorgeworfen werden. Der Fehler liegt bei der Titelgebung. Der Chefarzt sagt nämlich wortwörtlich: Es deute vieles darauf hin ... Er sagt nicht, er vermute, der Verunfallte bleibe gelähmt. Mit dem Titel wurde jedoch den Lesern suggeriert, Baumberger sei sich gleichsam sicher, dass ... Wenn wir die wortwörtliche Aussage lesen, beschreibt der Chefarzt des Paraplegiker Zentrums lediglich - völlig korrekt -, dass es nur bei einer kompletten Tetraplegie keine Heilung mehr gebe. Bei Samuel Koch ist dies aber noch nicht bestätigt.
Auch am 6. Dezember antwortet Neurochirurg Raab vorbildlich. Er macht vor Mikrofon und Kamera keine Prognosen. BILD Journalisten fragten bei den Aerzten der Düsseldorfer Uniklinik nach: Wie stehen die Chancen auf eine vollständige Genesung und wie gross ist die Gefahr einer fortwährenden Lähmung? Für Neurochirurg Dr. Richard Bostelmann ist "der Zeitpunkt" für eine konkrete Einschätzung "viel zu früh". Denn: Auch an Tag zwei nach dem schlimmen Sturz ist Samuels Zustand weiterhin kritisch! Raab : "Wir möchten uns zum derzeitigen Zeitpunkt nicht über irgendwelche prognostischen Aspekte der Verletzungen, die zugegebenermassen schwerwiegend sind, äussern."
Der "Blick" vom 7. Dezember meint: Samuel bleibt wohl gelaehmt. Dieser Titel basiert auf den Aussagen der Mediensprecherin des Universitätsspitals Düsseldorf - Susanne Doheide. Die Medien machten aus den Mutmassung der Mediensprecherin eine Tatsache.

Susanne Doheide erwähnte zuerst alle Fakten (dies war noch völlig korrekt) und schilderte auch die festgestellten Lähmungserscheinungen. Dann fügte sie dazu:
"Wir können eventuell davon ausgehen, dass sich das nicht vollkommen zurückentwickeln wird. Das kann man aber nicht mit Sicherheit sagen."
Analysieren wir diesen Wortlaut, so stellen wir fest: Die Mediensprecherin machte den Fehler, zu vermuteten und eine Prognose zu formulieren, die noch nicht belegt ist.
Im Gegensatz zur Sprecherin hatte der Chefarzt nach der Einlieferung immer nur Fakten beschrieben. Aus meiner Sicht hatte der Arzt vorbildlich kommuniziert. Er beschrieb stets nur den jeweiligen aktuellen Zustand und verstieg sich nie in Hypothesen, obwohl ihn die Journalisten mit Fragen über den kommenden Verlauf der Genesung löcherten.
Schon im Fall des verunfallten Skifahrers Daniel Albrecht haben wir gesehen, wie der Universitätsspital Innsbruck vorbildlich und proaktiv informiert hatte und auf jegliche Prognosen verzichtete. Wir haben später nach der Überlieferung ins Berner Inselspital erlebt, wie man dort die Journalisten abgeschottet hatten. Dies ist nach negativen Erfahrung mit der fragwürdigen Foto des Buundesrates Merz passiert. Die Medien hoten sich die Informationen dann bei Verwandten oder beim Chef "SwissSki" die Informationen.

In Krisensituationen muss die Kommunikation koordiniert geführt werden. Informieren heisst dann: Fakten beschreiben. Ein Chefarzt, der eine Krisensituation erfolgreich gemeistert hatte, schrieb mir nach meiner Analyse:
Die Mediensprecherin hat sich in ihrer doppelten Verneinung restlos verheddert. Ausserdem kennt sie den "Punkt" nicht, nur den Beistrich - und findet nicht mehr in den Hauptsatz zurück. Wenn das Publikum auf eine schlechte Nachricht vorbereitet werden muss, dann würde ich solche Inhalte auch mitteilen aber eher so:
"Der Patient ist derzeit im künstlichen Tiefschlaf (nicht Koma, das ist negativ besetzt). Deshalb können wir im Moment nicht feststellen, ob Lähmungen vorhanden sind..... Die Operation hat die Wirbelsäule knöchern stabilisiert."
Oder, zu einem späteren Zeitpunkt:
"Wir haben den Patienten langsam aus dem künstlichen Tiefschlaf aufwachen lassen. Dabei sind erste Hinweise auf Lähmungserscheinungen sichtbar geworden. Erst in weiteren Untersuchungen -wenn der Patient völlig wach ist - können wir das genaue Ausmass der Lähmungen feststellen."

Noch später: "Der Patient ist jetzt wach. Lähmungen sind leider vorhanden. Das genaue Ausmass der Lähmungen wollen wir ihnen aus Respekt vor der Privatsphäre des Patienten und seiner Familie nicht berichten. Ob sich die Lähmungen zurückbilden werden, können wir jetzt noch nicht sagen. Eine hochprofessionelle Rehabilitationstherapie kann hier helfen, und ist unter allen Umständen auch sehr lange durchzuführen."
Nachtrag 11. Dez.10: Erfreulich auch, wie die Aerzte in Nottwil professionell informieren. Kein Arzt macht fragwürdige Prognosen:
Nottwil (dpa) - Der Schweizer Arzt des schwer verletzten Wettkandidaten Samuel Koch hält sich bei einer Prognose über die Heilungschancen des 23-Jährigen zurück. Entscheidend seien die ersten beiden Wochen nach dem Unfall, sagte Oberarzt Hans Georg Koch der Zeitung "Blick". Die Ärzte der Schweizer Klinik sähen Möglichkeiten einer positiven Entwicklung und hätten die Hoffnung, dass die Lähmungserscheinungen und Gefühlsstörungen zurückgehen. Am Montag will sich die Klinik zu den nächsten Schritten äussern.

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