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www.rhetorik.ch aktuell: (16. Okt, 2010)

Geschriebener Dialekt oder Hochsprache

Rhetorik.ch Artikel zum Thema:
Im Tagesanzeiger schreibt der Germanist und emeritierte Professor von der Uni Zürich Peter von Matt über Dialektwahn und die gefährliche Abwertung des Hochdeutschen. Er plädiert dafür, in geschriebener Sprache die Hochsprache zu verwenden. Seine drei Hauptargumente sind, dass der Dialekt nie perfekt erlernbar ist, vor allem weil er in so vielen Varianten existiert und viele Ausdrücke auch für Schweizer unverständlich sind. Der zweite Punkt ist, dass oft ungewollt auch die Mundart verwendet wird, wenn der Gesprächspartner kein Schweizerdeutsch kennt. Der dritte Punkt sei eine Verwahrlosung der Sprache. Der hochdeutsche Wortschatz friere auf dem Volksschulniveau ein.

Vom Blickwinkel der Kommunikation haben die ersten zwei Punkte eine Berechtigung: wir lesen wenig Dialekt im geschriebenen Wort. Es gibt keine verbindliche Schreibweise für viele Ausdrücke. Selbst als geborener Schweizer muss man sich einen in Dialekt geschriebenen Text oft erst vorlesen, um ihn zu verstehen. Das kann eine Zumutung sein. Auch wenn man den gleichen Dialekt spricht. Bei anderen Dialekten kann man sehr schnell ins Stolpern geraten und den Text missverstehen. Auch der zweite Punkt der Unhöflichkeit ist berechtigt. (siehe auch Aktuell vom 30. Dezember, 2003). Die Gefahr von Falschinterpretationen und das Ausschliessen von Gesprächspartnern aus Nachbarländern (oder gar der Schweiz selbst) ist zu gross. Der dritte Punkt über die Verwahrlosung der Sprache ist wohl zu pessimistisch oder akademisch. Wir lesen Geschriebenes vor allem in der Schriftsprache. Es gibt keine Hinweise dafür, dass Dialekt die Sprache verwahrlost. Es gibt auch Sprachforscher z.B. Heike Wiese von Potsdam, die Dialekt oder Sprachvariationen als Bereicherung der Sprache sehen. Das Beispiel von der Ameise im Text von Peter von Matt illustriert das.

Hier ist der Artikel von Matt:

Alles, was in der deutschen Schweiz geschrieben und gelesen wird, ist Hochdeutsch oder Standardsprache. Standardsprache ist ein so hässliches Wort, dass man seinen Erfinder aus der Sprachgemeinschaft ausschliessen sollte; ich verwende es an dieser Stelle nur, um öffentlich zu erklären, dass ich es nie mehr verwenden werde. Auch wenn viele Leute ihre SMS im Dialekt schreiben oder in irgendeinem Mundartgewurstel, gilt die Regel: Geschrieben und gelesen wird in der deutschen Schweiz das Hochdeutsche mit seinen schweizerhochdeutschen Eigenheiten, also eben etwa den Spargeln, den Türfallen und den Unterbrüchen. Nun hat sich aber in diesem Lande seit einiger Zeit der Wahn ausgebreitet, der Schweizer Dialekt sei die Muttersprache der Schweizer und das Hochdeutsche die erste Fremdsprache. Das ist Unsinn, führt aber zu einer chronischen Einschüchterung der Deutschen in der Schweiz, denen man unterstellt, dass sie "unsere Sprache" nicht beherrschten. In Wahrheit ist in der Schweiz der Dialekt nur für Analphabeten die ausschliessliche Muttersprache. Unsere Muttersprache ist Deutsch in zwei Gestalten: Dialekt und Hochdeutsch, und zwar so selbstverständlich und von früher Kindheit an, wie das Fahrrad zwei Räder hat. Wir wachsen mit beiden Gestalten unserer Muttersprache auf, erfahren und erweitern unsere Welt in beiden Gestalten ein Leben lang, und unsere Autorinnen und Autoren schreiben, wenn sie etwas taugen, ein Hochdeutsch, das dem Ausdrucksreichtum keines deutschen oder österreichischen Autors nachsteht. Ist es doch ihre Muttersprache voll und ganz. Nur haben sie noch deren zweite Gestalt daneben, in der sie sich mit den Landsleuten unterhalten und vielleicht auch gelegentlich ein Hörspiel schreiben. Der verbreitete Wahn, nur der Dialekt sei die Muttersprache der Deutschschweizer, beruht auf einer Mischung von Denkschwäche, Sentimentalität und Borniertheit. Und er hat bedenkliche Folgen. Er beschädigt die Liebe zum Deutschen und damit die Kulturfähigkeit vieler Schweizer. Denn wer seine Muttersprache nicht liebt, arbeitet auch nicht mit Lust daran sein Leben lang. Wer aber nicht sein Leben lang mit Lust an seiner Muttersprache arbeitet, rutscht langsam weg aus den schöpferischen Zonen seiner Kultur. Die deutschschweizerischen Dialekte sind eine bunte Wunderwelt, die gerade deshalb so tausendfach blüht und wuchert, weil es keine schriftliche Form für sie gibt. Wer dennoch eine Postkarte, eine SMS oder, was schon viel seltener geschieht, einen ganzen Brief im Dialekt schreibt, kann dabei gegen keine orthografischen Regeln verstossen. Und was den Wortschatz anbelangt, variiert dieser fast von Dorf zu Dorf. Ein berühmtes Beispiel ist die Ameise. Die nennt sich in der Deutschschweiz so:

Ämesse, Omeisele, Äbese,Aweissi, Ameisi, Uweisse,Wurmeissi, Wurmeisle, Wurmasle, Harmäusli, Ambeisse, Umbeisse, Hampeissi, Lombeisse, Empeisele, Ambitzli, Wumbitzgi, Humbetzgi, Ambessgi, Umbasle, Hobäsle,Wurmasle, Wambusle, Bumbeisgi


Das hätte ohne weiteres von den Dadaisten auf ihrer verrauchten Bühne im Zürcher Niederdorf rezitiert werden können. Ähnlich steht es mit der Bezeichnung für den Brotanschnitt, um den in allen Familien gestritten wird, teils weil man ihn besonders liebt, teils weil man ihn verabscheut:

Aaschnitt, Aahau, Aahäulig,Aahäueli, Obenäbli, Deckel,Gupf, Güpfi, Änggel, Münggel, Mürrgi, Mutsch, Bode, Chäppli,Aamündli, Gruschte, Chropf, Wegge, Zipfel, Scherbitz, Reifteli, Mugerli, Houdi, Gutsch, Götsch, Fux, Fuudi


Angesichts der zwei lautmalerischen Litaneien wird auch deutlich, dass niemand je imstande sein wird, den deutschschweizerischen Dialekt als solchen zu lernen. Es gibt ihn als feste Grösse gar nicht, es gibt ihn nur als ungeheure, durcheinander wogende sprachliche Wolkenmasse. In dieser findet jeder Deutschschweizer seinen Winkel, in dem er besonders zu Hause ist, aus dem seine eigene Variante und Abschattierung der schweizerdeutschen Mundart stammt. Dass er diesen Winkel, diese Variante liebt, ist verständlich, und nichts ist dagegen einzuwenden. Aber wenn er deshalb jene Gestalt seiner Muttersprache abwertet, über die er mit der ganzen deutschen Sprachkultur verbunden ist und über die der geistige Austausch, das Geben und Nehmen denkender Köpfe wesentlich geschieht, verfehlt er sich gegenüber einem unersetzlichen Stück seiner Heimat. Der Wahn, der Dialekt sei die einzige und eigentliche Muttersprache, hat zur Folge, dass sich manch ein Deutschschweizer das Recht herausnimmt, auch mit Deutschen und Österreichern sofort und ausschliesslich im Dialekt zu sprechen. Das ist ungehobelt, bäurisch und stillos. Noch schlimmer aber ist, dass dieses Verhalten den blitzschnellen Wechsel zwischen den zwei Gestalten der Muttersprache, der in der Schweiz lange Zeit ganz selbstverständlich praktiziert wurde und die Sprachfertigkeit des Deutschschweizers ebenso bewies wie seine Sprachfreude, zusehends zum Verschwinden bringt. Wenn zwei Schweizer miteinander plaudern, tun sie dies im Dialekt. Das ist gut so und richtig. Tritt ein Deutscher hinzu, schalten sie um ins Hochdeutsche. Auch das wäre gut so und richtig. Nur tun sie es heute immer weniger, die Jungen fast überhaupt nicht mehr. Der Deutsche soll bitte sehr die Mundart verstehen. Das ist schlicht arrogant. Und einfältig, weil es unterstellt, dass das Hochdeutsche nicht unsere Sprache sei. Die Folge ist eine schleichende Provinzialisierung, die man als solche nicht erkennen will, auf die man sich vielmehr noch etwas einbildet. Hier liegt ein echtes nationales Problem vor, auch wenn es nur für die Deutschschweiz gilt. Bedenklich ist dabei nicht so sehr das schlechte Benehmen. Mangelnder Anstand bestraft sich ja in der Regel selbst. Bedenklich ist der Rückgang der sprachlichen Beweglichkeit, der Ausdrucksfreude und syntaktischen Eleganz. Der hochdeutsche Wortschatz friert auf dem Volksschulniveau ein. Und die Medien tun nichts dagegen, obwohl sie selbst immer noch ein sehr passables Deutsch schreiben und reden. Sie fürchten sich vor der Volksseele, vor den Leserbriefen, vor den Kitschgefühlen, wonach der Dialekt die Sprache des Herzens sei, das Hochdeutsche aber kalt und fremd. Dass der Deutschschweizer gleichwohl rasch bereit ist, sich über den Dialekt schon des Nachbarkantons lustig zu machen und bestimmte Mundartfärbungen sogar offen zu verachten, passt da allerdings schon weniger ins Bild. Eine gefühlsmässige Abwertung der Sprache, in der Gottfried Keller und Robert Walser, Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt geschrieben haben, ist heute weithin festzustellen. Natürlich führt dabei niemand gerade diese Beispiele an. Sie sind aber mitbetroffen. Würde man auch diese Konsequenz aussprechen, läge der Blödsinn sofort zutage.


Quellen:



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