Im Tagesanzeiger schreibt
der Germanist und emeritierte Professor von der Uni Zürich
Peter von Matt
über Dialektwahn und die gefährliche Abwertung des Hochdeutschen.
Er plädiert dafür, in geschriebener Sprache die Hochsprache zu
verwenden. Seine drei Hauptargumente sind, dass der Dialekt nie perfekt erlernbar ist,
vor allem weil er in so vielen Varianten existiert und viele Ausdrücke
auch für Schweizer unverständlich sind. Der zweite Punkt ist, dass oft ungewollt
auch die Mundart verwendet wird, wenn der Gesprächspartner kein Schweizerdeutsch
kennt. Der dritte Punkt sei eine Verwahrlosung der Sprache. Der hochdeutsche Wortschatz
friere auf dem Volksschulniveau ein.
Vom Blickwinkel der Kommunikation haben die ersten zwei Punkte eine Berechtigung:
wir lesen wenig Dialekt im geschriebenen Wort. Es gibt keine verbindliche
Schreibweise für viele Ausdrücke. Selbst als geborener Schweizer muss man sich
einen in Dialekt geschriebenen Text oft erst vorlesen, um ihn zu verstehen. Das kann eine
Zumutung sein. Auch wenn man den gleichen Dialekt spricht. Bei anderen Dialekten kann
man sehr schnell ins Stolpern geraten und den Text missverstehen.
Auch der zweite Punkt der Unhöflichkeit ist berechtigt.
(siehe auch Aktuell vom 30. Dezember, 2003).
Die Gefahr von Falschinterpretationen und das Ausschliessen von Gesprächspartnern aus
Nachbarländern (oder gar der Schweiz selbst) ist zu gross.
Der dritte Punkt über die Verwahrlosung der Sprache ist wohl zu pessimistisch oder akademisch.
Wir lesen Geschriebenes vor allem in der Schriftsprache. Es gibt keine Hinweise dafür, dass Dialekt
die Sprache verwahrlost. Es gibt auch Sprachforscher
z.B. Heike Wiese
von Potsdam, die Dialekt oder Sprachvariationen als Bereicherung der Sprache sehen. Das Beispiel von
der Ameise im Text von Peter von Matt illustriert das.
Hier ist der Artikel von Matt:
Alles, was in der deutschen Schweiz geschrieben und gelesen
wird, ist Hochdeutsch oder Standardsprache. Standardsprache ist
ein so hässliches Wort, dass man seinen Erfinder aus der
Sprachgemeinschaft ausschliessen sollte; ich verwende es an dieser
Stelle nur, um öffentlich zu erklären, dass ich es nie mehr
verwenden werde. Auch wenn viele Leute ihre SMS im Dialekt schreiben
oder in irgendeinem Mundartgewurstel, gilt die Regel: Geschrieben
und gelesen wird in der deutschen Schweiz das Hochdeutsche mit seinen
schweizerhochdeutschen Eigenheiten, also eben etwa den Spargeln, den
Türfallen und den Unterbrüchen.
Nun hat sich aber in diesem Lande seit einiger Zeit der Wahn ausgebreitet,
der Schweizer Dialekt sei die Muttersprache der Schweizer und das
Hochdeutsche die erste Fremdsprache. Das ist Unsinn, führt aber
zu einer chronischen Einschüchterung der Deutschen in der Schweiz,
denen man unterstellt, dass sie "unsere Sprache" nicht beherrschten. In
Wahrheit ist in der Schweiz der Dialekt nur für Analphabeten die
ausschliessliche Muttersprache.
Unsere Muttersprache ist Deutsch in zwei Gestalten: Dialekt und
Hochdeutsch, und zwar so selbstverständlich und von früher
Kindheit an, wie das Fahrrad zwei Räder hat. Wir wachsen mit
beiden Gestalten unserer Muttersprache auf, erfahren und erweitern
unsere Welt in beiden Gestalten ein Leben lang, und unsere Autorinnen
und Autoren schreiben, wenn sie etwas taugen, ein Hochdeutsch, das dem
Ausdrucksreichtum keines deutschen oder österreichischen Autors
nachsteht. Ist es doch ihre Muttersprache voll und ganz.
Nur haben sie noch deren zweite Gestalt daneben, in der sie sich mit den
Landsleuten unterhalten und vielleicht auch gelegentlich ein Hörspiel
schreiben. Der verbreitete Wahn, nur der Dialekt sei die Muttersprache
der Deutschschweizer, beruht auf einer Mischung von Denkschwäche,
Sentimentalität und Borniertheit. Und er hat bedenkliche Folgen. Er
beschädigt die Liebe zum Deutschen und damit die Kulturfähigkeit
vieler Schweizer. Denn wer seine Muttersprache nicht liebt, arbeitet
auch nicht mit Lust daran sein Leben lang. Wer aber nicht sein Leben
lang mit Lust an seiner Muttersprache arbeitet, rutscht langsam weg aus
den schöpferischen Zonen seiner Kultur.
Die deutschschweizerischen Dialekte sind eine bunte Wunderwelt, die
gerade deshalb so tausendfach blüht und wuchert, weil es keine
schriftliche Form für sie gibt. Wer dennoch eine Postkarte,
eine SMS oder, was schon viel seltener geschieht, einen ganzen Brief
im Dialekt schreibt, kann dabei gegen keine orthografischen Regeln
verstossen. Und was den Wortschatz anbelangt, variiert dieser fast von
Dorf zu Dorf. Ein berühmtes Beispiel ist die Ameise. Die nennt sich
in der Deutschschweiz so:
Ämesse, Omeisele, Äbese,Aweissi, Ameisi, Uweisse,Wurmeissi,
Wurmeisle, Wurmasle, Harmäusli, Ambeisse, Umbeisse, Hampeissi,
Lombeisse, Empeisele, Ambitzli, Wumbitzgi, Humbetzgi, Ambessgi, Umbasle,
Hobäsle,Wurmasle, Wambusle, Bumbeisgi
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Das hätte ohne weiteres von den Dadaisten auf ihrer
verrauchten Bühne im Zürcher Niederdorf rezitiert werden
können. Ähnlich steht es mit der Bezeichnung für den
Brotanschnitt, um den in allen Familien gestritten wird, teils weil man
ihn besonders liebt, teils weil man ihn verabscheut:
Aaschnitt, Aahau, Aahäulig,Aahäueli, Obenäbli, Deckel,Gupf,
Güpfi, Änggel, Münggel, Mürrgi, Mutsch, Bode,
Chäppli,Aamündli, Gruschte, Chropf, Wegge, Zipfel, Scherbitz,
Reifteli, Mugerli, Houdi, Gutsch, Götsch, Fux, Fuudi
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Angesichts der zwei lautmalerischen Litaneien wird auch deutlich, dass
niemand je imstande sein wird, den deutschschweizerischen Dialekt als
solchen zu lernen. Es gibt ihn als feste Grösse gar nicht, es gibt
ihn nur als ungeheure, durcheinander wogende sprachliche Wolkenmasse. In
dieser findet jeder Deutschschweizer seinen Winkel, in dem er besonders
zu Hause ist, aus dem seine eigene Variante und Abschattierung der
schweizerdeutschen Mundart stammt. Dass er diesen Winkel, diese Variante
liebt, ist verständlich, und nichts ist dagegen einzuwenden. Aber
wenn er deshalb jene Gestalt seiner Muttersprache abwertet, über
die er mit der ganzen deutschen Sprachkultur verbunden ist und über
die der geistige Austausch, das Geben und Nehmen denkender Köpfe
wesentlich geschieht, verfehlt er sich gegenüber einem unersetzlichen
Stück seiner Heimat.
Der Wahn, der Dialekt sei die einzige und eigentliche Muttersprache, hat
zur Folge, dass sich manch ein Deutschschweizer das Recht herausnimmt,
auch mit Deutschen und Österreichern sofort und ausschliesslich im
Dialekt zu sprechen. Das ist ungehobelt, bäurisch und stillos. Noch
schlimmer aber ist, dass dieses Verhalten den blitzschnellen Wechsel
zwischen den zwei Gestalten der Muttersprache, der in der Schweiz
lange Zeit ganz selbstverständlich praktiziert wurde und die
Sprachfertigkeit des Deutschschweizers ebenso bewies wie seine
Sprachfreude, zusehends zum Verschwinden bringt.
Wenn zwei Schweizer miteinander plaudern, tun sie dies im Dialekt. Das
ist gut so und richtig. Tritt ein Deutscher hinzu, schalten sie um ins
Hochdeutsche. Auch das wäre gut so und richtig. Nur tun sie es heute
immer weniger, die Jungen fast überhaupt nicht mehr. Der Deutsche
soll bitte sehr die Mundart verstehen. Das ist schlicht arrogant. Und
einfältig, weil es unterstellt, dass das Hochdeutsche nicht unsere
Sprache sei. Die Folge ist eine schleichende Provinzialisierung, die man
als solche nicht erkennen will, auf die man sich vielmehr noch etwas
einbildet. Hier liegt ein echtes nationales Problem vor, auch wenn es
nur für die Deutschschweiz gilt.
Bedenklich ist dabei nicht so sehr das schlechte Benehmen. Mangelnder
Anstand bestraft sich ja in der Regel selbst. Bedenklich ist der
Rückgang der sprachlichen Beweglichkeit, der Ausdrucksfreude
und syntaktischen Eleganz. Der hochdeutsche Wortschatz friert auf dem
Volksschulniveau ein. Und die Medien tun nichts dagegen, obwohl sie
selbst immer noch ein sehr passables Deutsch schreiben und reden. Sie
fürchten sich vor der Volksseele, vor den Leserbriefen, vor den
Kitschgefühlen, wonach der Dialekt die Sprache des Herzens sei,
das Hochdeutsche aber kalt und fremd.
Dass der Deutschschweizer gleichwohl rasch bereit ist, sich über
den Dialekt schon des Nachbarkantons lustig zu machen und bestimmte
Mundartfärbungen sogar offen zu verachten, passt da allerdings
schon weniger ins Bild. Eine gefühlsmässige Abwertung
der Sprache, in der Gottfried Keller und Robert Walser, Max Frisch
und Friedrich Dürrenmatt geschrieben haben, ist heute weithin
festzustellen. Natürlich führt dabei niemand gerade diese
Beispiele an. Sie sind aber mitbetroffen. Würde man auch diese
Konsequenz aussprechen, läge der Blödsinn sofort zutage.
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Quellen:
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