Rhetorik.ch

Knill+Knill Kommunikationsberatung

Knill.com
Aktuell Artikel Artikel Inhaltsverzeichnis Suche in Rhetorik.ch:

www.rhetorik.ch aktuell: (10. Jul, 2009)

Die Affaire Tinner

Rhetorik.ch Artikel zum Thema:


Es ist ein Machtkampf zwichen Bundesrat und Strafverfolgungsbehörden, ein Tauziehen zwischen Exekutive und Judikative: Der Fall Tinner. Eine beispielslose Razzia des Untersuchungsrichters war der letzte Akt in dieser Geschichte, die Politgroteske und Spionagekrimi gleichzeitig ist. In der Schweiz spricht man gar von einer Schildbürgergeschichte.

Wird das Bundesgericht das letzte Machtwort sprechen? Dieses groteske Machtspiel alles andere als vertrauensfördernd.

Der "Tagesanzeiger" zum letzten Akt: Tagesanzeiger.

Es waren Szenen, wie man sie im Schweizer Rechtsstaat wohl nicht für möglich gehalten hätte: Gestern Vormittag punkt 11 Uhr erscheinen der oberste eidgenössische Untersuchungsrichter, Jürg Zinglé, und sein Kollege Andreas Müller bei der Kriminalpolizei des Bundes. Mit dabei haben sie sechs Beamte der Berner Kantonspolizei sowie die richterliche Zustimmung für eine Hausdurchsuchung. Die Gruppe will die noch zurückgehaltenen Akten zum Fall Tinner auffinden, sie versiegeln und sie damit vor der Vernichtung durch den Bundesrat retten. Doch dieser Plan scheitert. Den Beamten wird der Zugang zu den Akten dem Vernehmen nach verweigert. Um die Situation zu entschärfen, geben sie sich letztlich mit einem Zwischenschritt zufrieden: Sie versiegeln einen Tresor, beschlagnahmen diesen und transportieren ihn zur Berner Polizei ab. Darin befinden sich die Schlüssel zu den Räumen, in denen die heiklen Dokumente aufbewahrt werden. Die Akten selber bleiben in einem Schrank in einem Zimmer des Bundessicherheitsdienstes. Mit den Schlüsseln hofft man, später doch noch an sie heranzukommen.



Der Spion der aus dem Rheintal kam.


Die folgende Chronik stammt enthält Material von den folgenden Quellen:
Einige der Players im Tinner Drama

Marco Tinner

Abdul Qaader Khan

Fridrich Tinner

Daniel Geiges

Urs Tinner

Gerhard Wisser
1970-80: Der pakistanische Atomspezialist Abdul Qaader Khan kopiert in Holland in einem Labor für Urananreicherung Pläne. 1976: Khan errichtet eine Nuklearfabrik in Pakistan und leitet das pakistanischen Kernforschungsprogramms. Er verkauft über ein Netzwerk Pläne an Libyien, Nordkorea und Iran. Der Engeneer Friedrich Tinner exportiert Güter. Der CIA behauptet, das sei für das pakistanische Atomprogramm. 1987: Khan verschafft dem Iran Pläne und Uran-Zentrifugen. Friedrich Tinner soll in den Deal involviert sein. 1991: Die von Tinner gegründete Firma Cetec will über Umwege 300 Ventile für eine Hochgeschwindigkeitszentrifuge in den Irak liefern. 1996: werden die Ventile von Uno-Inspektoren beschlagnahmt. 1997: Libyen startet mit Hilfe Khans ein geheimes Atomwaffenprogramm. Kahn beschafft die Gas-Ultra-Zentrifugen für die Urananreicherung. Auch hier Vater Friedrich und seine beiden Söhne Marco Tinner und Urs Tinner beteiligt. 1998: Pakistan zündet seine erste Atombombe. Der Vater der "islamischen Bombe" ist Khan. 2000: Urs Tinner wird in Dubai vom amerikanischen Geheimdienst CIA angeworben. 2002: Urs Tinner bildet libysche Techniker aus und errichtet in Malaysia nach Plänen Khans eine Produktionsstätte zur Fertigung von Zentrifugenteilen, die zur Urananreicherung in Libyen bestimmt sind. 2003 Oktober: Der Frachter "BBC China" mit Nukleartechnologie wird auf dem Weg von Malaysia nach Libyen in Italien abgefangen. Angeblich kam der Wink von der CIA. 2003 Dezember: Muammar al-Gaddafi kündigt Ende Jahr den Stopp des Atomwaffenprogramms an. 2004 4. Februar: Abdul Qader Khan gibt illegale Lieferungen von Atomtechnologie an den Iran, Libyen und Nordkorea zu, wird aber von Pervez Musharraf begnadigt. Libyen stellt sein Atomwaffenprogramm ein. 2004 19. Februar: Die IAEA übergibt dem Schweizer Staatssekretariat für Wirtschaft (seco) eine Liste mit den Namen von 15 Personen und zwei Firmen, die im Verdacht stehen, an den geheimen Atomprogrammen teilgenommen zu haben. 2004 25. August: Die Bundesanwaltschaft nimmt auf Grund eines deutschen Rechtshilfegesuchs Hausdurchsuchungen im Fall Lerch vor. 2004 8. Oktober: Die Schweizer Ingenieure Friederich und Urs Tinner werden in Deutschland verhaftet. Gegen sie wird wegen Verstössen gegen das Güterkontroll- oder Kriegsmaterialgesetz ermittelt. Urs Tinner informierte nach eigenen Angaben den US-Geheimdienst CIA über die Geschäfte. Urs Tinner informierte nach eigenen Angaben den US-Geheimdienst CIA über die Geschäfte. 2004 13. Oktober: Die Bundesanwaltschaft eröffnet gegen Urs Tinner und weitere Beschuldigte ein Verfahren wegen Verdachts auf Verstösse gegen das Güterkontrollgesetz und gegen das Kriegsmaterialgesetz. 2004 14. November: Gotthard Lerch wird an seinem Wohnort in Grabs im St.Galler Rheintal auf Ersuchen Deutschlands verhaftet. Er wird im Juni 2005 an Deutschland ausgeliefert. 2005 18. August: Die Bundesanwaltschaft weitet die Ermittlungen gegen die Familie Tinner auf den Tatbestand der Geldwäscherei aus. 2005 5. September: Auch Friedrich Tinner und Marco Tinner werden verhaftet, ebenso der Schweizer Ingenieur Daniel Geiges in Südafrika. Friedrich Tinner wird Anfang 2006 wieder aus der Haft entlassen. 2006 Jan: Friedrich Tinner wird aus de Haft entlassen. 2006 15. Mai: Die USA streichen Libyen von der Liste der Terrorismus-unterstützenden Staaten und kündigen die Wiederherstellung voller diplomatischer Beziehungen zu Tripolis an. 2006 Mai: Liechtenstein lässt auf Grund von schweizerischen und deutschen Rechtshilfegesuchen im Zusammenhang mit der Atomschmuggel-Affäre Bankkonten sperren. Die USA ignorieren Rechtshilfegesuche aus der Schweiz. 2006 26. Juli: Prozess gegen den in die Affäre verwickelten deutschen Ingenieur Gotthard Lerch wird ausgesetzt, weil dem Gericht keine vollständigen Akten vorliegen und weil mehrere Rechtshilfeersuchen hängig sind. Die Schweiz sagt Rechtshilfe zu, aber der Angeklagte wird im August 2006 frei gelassen. 2007 Juli: Christoph Blocher trifft sich in Washington D.C. mit US-Justizminister Gonzalez und Spitzen des US-Geheimdiensts. Die US-Vertreter dr&aum;ngen in der Affäre Tinner nicht wegen Spionage zu ermitteln. 2007 31. Juli: Libyen unterzeichnet die Uno-Konvention gegen Atom-Schmuggel. 2007 August: Der Bundesrat verwehrt der Bundesanwaltschaft, im Fall Tinner Ermittlungen wegen Verdachts auf Nachrichtendienst für einen Drittstaat aufzunehmen. 2007 15. Oktober: Das Bundesgericht weist eine Beschwerde eines der inhaftierten Schweizer Ingenieure ab. 2007 14. November: Das Oberlandesgericht Stuttgart entscheidet, den 2006 am Landgericht Mannheim geplatzten "Atomschmuggel"-Prozess neu aufzurollen. In der Schweiz verfügt der Bundesrat in einem geheim gehaltenen Beschluss, umfangreiche Datenträger und Dokumente aus dem Tinner-Verfahren der Bundesanwaltschaft durch die Bundespolizei und unter Aufsicht der IAEA vernichten zu lassen. Die Dokumente enthalen Baupläne für Atomwaffen, Gaszentrifugen und Lenkwaffensysteme. 2007 28. Dezember: Das Bundesstrafgericht in Bellinzona wird über den Bundesratsbeschluss zur Vernichtung der Akten informiert. Das Gericht interveniert nicht gegen die Aktenvernichtung. 2008 5. Februar: In Pretoria wird der in den Atomschmuggel verwickelte 69-jährige Südafrika-Schweizer Daniel Geiges nach einem weitgehenden Geständnis zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt. Bereits im September 2007 war der Deutsche Gerhard Wisser zu einer bedingten Haftstrafe verurteilt worden. Die zwei Männer sollen die Fertigung von Bauteilen für das libysche Atomwaffenprogramm überwacht und koordiniert haben. 2008 13. März: Der Eidgenössische Untersuchungsrichter Andreas Müller bestätigt Medienberichte, wonach in der Affäre um die Schweizer Ingenieure Akten veschwunden sind oder l¨ckenhaft sind. 2008 28. April: Das Eidgenössische Untersuchungsrichteramt verfügt die Entlassung von Urs Tinner und Marco Tinner aus der Untersuchungshaft. Die Bundesanwaltschaft legt dagegen Bundesstrafgericht Beschwerde ein. Urs und Marco bleiben vorerst in Haft. 2008 23. Mai: Bundespräsident Pascal Couchepin bestätigt erstmals die Aktenvernichtung im Fall Tinner. Er begründet die vom Bundesrat im November 2007 beschlossene Aktion damit, die fraglichen Unterlagen hätten detaillierte Baupläne für Atomwaffen und für Lenkwaffenträgersysteme enthalten. Der anhaltende Besitz solcher Unterlagen verstosse gegen den Atomsperrvertrag. Die Dokumente seien zudem ein erhebliches Sicherheitsrisiko für die Schweiz und die Staatengemeinschaft gewesen. 2008 27. Mai: Die Geschäftsprüfungsdelegation (GPDel) der Eidgenössischen Räte beschliesst weitere Anhörungen und Akteneinsichten wegen der Aktenvernichtung in der Atomschmuggelaffäre. Sie beschwert sich zudem, durch den Bundesrat erst am 8. Februar über die Aktenvernichtung informiert worden zu sein. 2008 28. Mai: Das Bundesstrafgericht gibt der Bundesanwaltschaft Recht und lehnt die Haftentlassung von Urs und Marco Tinner wegen Flucht- und Verdunkelungsgefahr ab. 2008 29. Mai: Das Bundesstrafgericht entscheidet, dass die Gebrüder Tinner in U-Haft bleiben. 2008 31. Mai: Bundespräsident Pascal Couchepin, Verteidigungsminister Samuel Schmid und Justizminister Christoph Blocher verteidigen die Aktenvernichtung: Die Dokumente hätten ein Sicherheitsrisiko dargestellt. Die Aktion sei in Absprache mit der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) erfolgt. Druck von CIA wird verneint. 2008 2. Juni: Der Bundesrat leitet wegen der umstrittenen Aktenvernichtung ein Strafverfahren wegen Amtsgeheimnisverletzung ein. Pierre Cornu wird als ausserordentlichen Bundesanwalt eingesetzt. 2008 5. Juni: Vor dem Oberlandesgericht in Stuttgart wird der Prozess gegen Gotthard Lerch neu aufgerollt, der ebenfalls in den Atomschmuggel verwickelt sein soll. Die Gebrüder Tinner wollen in diesem Prozess nicht aussagen. 2008 15. Juni: Die in der Schweiz vernichteten Dokumente enthielten nach einer von den Medien veröffentlichten Studie des Atomwaffenexperten David Albright Baupläne für einen neuartigen Atomsprengsatz. 2008 21. Juni: Khan bestreitet in einem NZZ-Interview, den Tinners Nuklearpläne geliefert zu haben. 2008 23. Juni: Die St. Galler Staatsanwaltschaft lässt Baupläne für einen Autoklaven zur Uran-Anreicherung versiegeln. Die Akten aus einem Strafverfahren aus den 1980er-Jahren wurden seit Jahren im Staatsarchiv aufbewahrt. 2008 3. Juli: Die Geschäftsprüfungsdelegation hört die Bundesräte Schmid und Calmy-Rey sowie alt Bundesrat Blocher zum Atomschmuggelfall Tinner an. 2008 5. August: Das Bundesgericht weist die Beschwerden der Gebrüder Tinner ab. Die Bundesanwaltschaft hält es laut dem Urteil für erwiesen, dass Urs Tinner und Marco Tinner seit Juni 2003 mit der CIA zusammengearbeitet haben. Sie geht zudem davon aus, dass der Bundesrat die Aktenvernichtung "auf Drängen von amerikanischer Seite" beschlossen hat. 2008 8. August: Das Bundesgericht weist die Beschwerden der Gebrüder Tinner ab. Gleichentags schreibt die Bundesanwaltschaft, der Bundesrat habe die Vernichtung der Tinner-Akten auf Druck der USA angeordnet. 2008 2. September: Urs Tinners Anwalt bestätigt, die Familie Tinner habe vom CIA eine Million Dollar erhalten. 2008 16. Oktober: Das Stuttgarter Oberlandesgericht verurteilt den 65-jährigen Ingenieur Lerch wegen Beteiligung an der Entwicklung einer für das Ausland bestimmten Atomwaffe zu fünfeinhalb Jahren Gefängnis. 2008 11. November: Bundesanwalt Erwin Beyeler gibt bekannt, dass Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf den Vollzug der Aktenvernichtung mit einem Wiedererwägungsgesuch aufschieben wollte, damit aber Anfang 2008 im Bundesrat nicht durchdrang. Beyeler will den Fall Tinner ungeachtet von Entschädigungsfolgen vor Bundesstrafgericht bringen. 2008 23. November: Der Anwalt von Urs Tinner klagt vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg wegen der Aktenvernichtung durch den Bundesrat. 2008 19. Dezember: Urs Tinner wird nach vier Jahren Untersuchungshaft freigelassen. Das eidgenössische Untersuchungsrichteramt will die Untersuchungshaft auch im Falle des Bruders Marco Tinner aufheben. Dies wird jedoch durch eine Beschwerde der Bundesanwaltschaft (BA) ans Bundesstrafgericht in Bellinzona verhindert. 2008 20. Dezember: Der Bundesrat spricht sich gegen die Veröffentlichung eines Berichts der GPDel zur Atomschmuggel-Affäre aus. Diese will aber auf die Forderung nicht eingehen. 2009 21. Januar: Die 1. Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts weist die Beschwerden der Bundesanwaltschaft und von Marco Tinner selber gegen dessen Freilassung aus der Untersuchungshaft ab. Wegen Fluchtgefahr erhöht sie die Kaution auf 100'000 Franken. 2009 22. Januar: Urs Tinner äussert sich im Dokumentarfilm des Schweizer Fernsehens "Der Spion, der aus dem Rheintal kam" erstmals öffentlich zur Affäre und der Zusammenarbeit mit der CIA. In einem Bericht bezeichnet die GPDel die vom Bundesrat angeordnete Aktenvernichtung als unverhältnismässig. Zudem bestätigt sie, dass die Aktion auf Druck der USA erfolgte. 2009 23. Januar: Auch Marco Tinner wird aus der Untersuchungshaft entlassen. 2009 1. April: Trotz der Schredder-Aktion des Bundesrates im November 2007 sind noch Aktenkopien zur Affäre Tinner in einem Archiv der Bundesanwaltschaft. Die Unterlagen waren der Shredder-Aktion des Bundesrates entgangen. 2009 23. Juni: Der Bundesrat entscheidet, dass die brisanten Dokumente schnell vernichtet werden sollen. Alle anderen Unterlagen werden aufbewart. 2009 24. Juni: Der Bundesrat beschliesst, den grössten Teil der Aktenkopien den Strafverfolgungsbehörden zugänglich zu machen. Die Dokumente mit Atombombendesign - rund 100 Seiten - sollen aber sofort vernichtet werden. 2009 30. Juni: Die GPDel bezeichnet den Beschluss, die Akten zu vernichten, als unzulässigen Eingriff in die Justiz. Sie fordert den Bundesrat auf, den Beschluss rückgängig zu machen und alle Akten der Justiz zugänglich zu machen. 2009 2. Juli: Der Bundesrat leht die Forderungen der GPD ab, die Unterlagen den Strafbehörden zu geben. Brisante Atombomben Baupläne sollen durch Platzhalter ersetzt werden. 2009 4. Juli: Der Untersuchungsrichter Andreas Müller erlässt Verfügung, die Akten herauszugeben. 2009 9. Juli: Der Bundesrat bekräftigt seine Weigerung, die Akten herauszugeben. Bundespräsident Merz bezeichnet die Verfügung als endgültig und nicht anfechtbar. Das Bundesstrafgericht fordert Andreas Müller auf, gegen den Bundesrat Zwangsmittel zu ergreifen. Der Bundesrat antwortet eine solche Beschlagnahmung sei rechtlich nicht möglich. 2009 10. Juli: Berner Kapo Beamte haben bei einer Hausdurchsuchung auf Anordnung des eidgenössischen Untersuchungsrichteramtes einen Tresor konfisziert, der den Schlüssel zu den Tinner-Akten enthält. Es soll Beweismaterial im Fall Tinner enthalten. Die Schweizer Regierung will im höheren Sicherheitsinteresse die Akten vernichten.


Nachtrag vom 23. September, 2009:

Der Tinner Fall bewegt immer noch die Gemüter. Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf hat das Vorgehen des Bundesrates vor dem Ständerat verteidigt: 20 Minuten vom 23. September 2009.



Rhetorik.ch 1998-2011 © K-K Kommunikationsberatung Knill.com