ORF, Christoph Feurstein: Ganz viele Menschen haben mich in den
letzten Tagen gefragt, wie es Ihnen geht. Es ist unglaublich, dass
Sie jetzt da sitzen. Frau Kampusch, wie geht es Ihnen?
| Kampusch: Den
Umständen entsprechend gut.
|
ORF:
Sie sind jetzt zwei Wochen in Freiheit. Wie haben Sie diese neue
Freiheit erlebt? Was machen Sie die ganze Zeit?
| Kampusch: In erster
Linie mich von den Strapazen der Flucht erholen. Mich entspannen. Mit
meinen Eltern telefonieren. Ich habe mich gestern und vorgestern schon
mit meiner Mutter getroffen. Auch bei der Polizei habe ich mich schon
mit meinen Eltern getroffen. Gestern hab ich zum ersten Mal meine
jüngere, ältere Schwester getroffen. Die Sabine. Gestern hat
mein Neffe Geburtstag gehabt. Er hat sich gewünscht, dass ich ihn
anrufe. Was ich erledigt habe. Obwohl ich so viel zu tun habe.
|
ORF:
Sie sind im Stress!
| Kampusch: Schon!
|
ORF:
Wer sind die Menschen, mit denen Sie am meisten sprechen? Denen
Sie am meisten vertrauen?
| Kampusch: Dr. Friedrich zum Beispiel. Aber
auch die ganzen Psychologen und so, die sich um mich kümmern. Aber
hauptsächlich vertraue ich eigentlich meiner Familie. Und auf mich.
|
ORF:
Das ist gut.
| Kampusch: Ja.
|
ORF:
Sie sind ja jetzt ziemlich von der Aussenwelt abgeschirmt. Sie
haben in Ihrem Brief auch geschrieben, dass es Ihnen hier sehr gut geht
und dass man Sie supergut behandelt. Sie haben aber auch gesagt, Sie
fühlen sich ein bisschen bevormundet.
| Kampusch: Ja, das wollte ich
gerade andeuten. Es ist wirklich sehr schwer. Alle Leute wollen einen
irgendwie beeinflussen. Sie meinen es zwar gut, aber ... Die ersten
Nächte haben sie versucht, mich dazu zu bringen zu schlafen. Sie
wollten am Anfang nicht verstehen, warum ich um vier Uhr in der Früh
schon munter bin und mich erst um elf oder so schlafen lege. Aber ich
habe sie davon überzeugt, dass ich das selbst in den Griff bekommen
werde. Und ohne Schlafmittel oder sonst irgendwelche Medikamente auskomme.
|
ORF:
Was war der erste Wunsch, den Sie sich erfüllt haben?
| Kampusch:
Es gab sehr viele Wünsche. Der hauptsächliche Wunsch, den ich
mir erfüllt habe in den letzten Tagen, ist die Freiheit.
|
ORF:
Was ich wissen wollte, weil Sie von der Öffentlichkeit
abgeschirmt sind: Waren Sie trotzdem schon draussen? Spazieren? Einkaufen?
| Kampusch: Ja. Einkaufen war ich. Und inkognito Eis essen.
|
ORF:
Wie hat dieses Inkognito ausgeschaut?
| Kampusch: Ich war mit dem
Dr. Berger auf der Währinger Strasse. Und da haben wir uns einen
Eisbecher bestellt. Ich hatte eine Sonnenbrille auf, ein Kopftuch um. Da
hat man mich nicht erkannt. Wir sind auch mit der Schnellbahn oder ... wir
sind auch mit der U-Bahn gefahren. Und es war toll, die Menschen alle
anzulächeln. Keiner hat mich erkannt!
|
ORF:
Haben Sie schon ausserhalb des Betreuerteams, das Sie auch
ständig umgibt, Freundschaften schliessen können?
| Kampusch:
Ja. Sozusagen auf der Station, wo ich aufgehoben bin, habe ich schon
Freundschaften geschlossen. Auch mit jüngeren.
|
ORF:
Wie war das erste Wiedersehen mit Ihren Eltern?
| Kampusch: Das
Komische war, dass meine Eltern sowie sämtliche Verwandten mehr
geweint ... Also sie haben geweint und mich umarmt und gedrückt.
|
ORF:
Es war ein bissel viel? Emotional?
| Kampusch: Ja, schon. Ich hab'
mich ein bisschen überfordert und ein bisschen beengt gefühlt
durch dieses plötzliche Einfallen. Die Polizisten zum Beispiel. Die
haben es ja auch nicht gefasst. Die wollten mich fast vor Glück
zerquetschen!
|
ORF:
Und Sie brauchen ein bisschen, um das zu realisieren?
| Kampusch:
Ja, sicher. Sicher. Ich meine, nicht so sehr ich, sondern eher die
Polizisten... Sie haben mir erzählt, dass sie ein paar Tage,
bevor ich floh, noch eine Genehmigung beantragt haben, um nach meiner
Leiche zu graben. Und sie haben die Hoffnung schon fast aufgegeben.
Dazu muss ich noch sagen: Meine Mutter hat die Hoffnung nie aufgegeben,
dass ich noch lebe.
|
ORF:
Ich weiss. Was ist das jetzt für eine Verbindung? Acht Jahre
liegen dazwischen.
| Kampusch: Das liegt bei uns nicht dazwischen. Die
Öffentlichkeit meint ja, ich sei kein gutes Kind oder meine
Mutter sei keine gute Mutter, weil sie mich nicht bei sich haben
möchte. Oder ich sie bei mir haben möchte. Aber bei uns ist
es eher so, als wäre gar nichts geschehen. (...)
|
ORF:
In diesen zwei Wochen haben Sie sich ja sicher viele Gedanken
um Ihre Zukunft gemacht. Was haben Sie für Pläne? Gibt es
einen Berufswunsch?
| Kampusch: Konkrete Berufswünsche habe ich
noch nicht. Ich möchte zuerst meine Bildung komplettieren. Und
die Matura machen. Und vielleicht studieren. Aber ich weiss noch nicht,
was ich studieren möchte.
|
ORF:
Irgendjemand hat mir erzählt, dass Sie gerne Schauspielerin
werden möchten.
| Kampusch: Ja, schon. Aber seien wir uns doch
ehrlich! Hollywood ist auch nicht so ...
|
ORF:
Es muss nicht immer Hollywood sein.
| Kampusch: Das meine ich ja!
|
ORF:
Wir haben auch ein schönes Burgtheater!
| Kampusch: Ja, meine
Mutter hat immer gesagt: "Wenn du gross bist, kommst du auf die Burg."
|
ORF:
Ich habe von Ihnen auch Kinderfotos gesehen. Da hab' ich gesehen:
Sie haben sich gern verkleidet. Ich hab' Sie mit Hüten gesehen. Auch
ein bisschen schon geschminkt. Hat das auch damit zu tun? Irgendwie schon
damals?
| Kampusch: Ja, schon. Ausserdem war das immer so eine Art Alibi,
Geburtstag zu feiern. Weil ich feierte gerne. Aber ich wollte auch nicht
sagen, ich möchte gerne feiern. Sondern ich hab' den Geburtstag
dann immer als Anlass genommen. Und es mussten sich alle verkleiden. Das
mit dem Verkleiden hat mich irrsinnig amüsiert. Überhaupt so
Kleidungsvorschriften. Für mich eigentlich nicht, aber für
die anderen.
|
ORF:
Lesen Sie eigentlich alles, was über Sie oder über den Fall
Natascha Kampusch in den Zeitungen veröffentlicht wird?
| Kampusch:
Im Prinzip möchte ich mich nicht mit solchen Verunglimpfungen,
Verleumdungen und Demütigungen belasten momentan. Das ist auch
zu viel. Ich könnte mir nicht jede Zeitung zu Gemüte
führen. Ich hab' so viel zu tun: medizinische Untersuchungen,
Gespräche, alles Mögliche.
|
ORF:
Was sind die Dinge, die Sie am meisten ärgern?
| Kampusch:
So Sachen, die einfach der Unwahrheit entsprechen. Missbrauch oder
... Vor allem ärgern mich diese Fotos von meinem Verlies, weil das
geht niemanden etwas an. Ich möchte auch nicht in die Wohnzimmer
und Schlafzimmer von den Leuten schauen. Warum sollen die Leute dann,
wenn sie ihre Zeitung aufschlagen, in mein Zimmer schauen? Das ist ein
Eingriff in die Persönlichkeit und ich glaube, das geht einfach
niemanden etwas an.
|
ORF:
Sie sagen jetzt selber "das Verlies".
| Kampusch: Ja.
|
ORF:
Im Brief haben Sie geschrieben, es war "Ihr Raum".
| Kampusch:
Na ja. Das hat mir der Dr. Friedrich so vorgeschlagen, um ehrlich zu
sein. Es ist ja auch mein Raum. Aber trotzdem: Verlies klingt einfach
besser. Weil es kommt dem nahe. Es ist unterirdisch. Ja, und die deutsche
Sprache bietet einfach nicht mehr Möglichkeiten.
|
ORF:
Ich habe gehört, dass Sie ein Buch schreiben wollen. Sie
wollen nicht, dass irgendjemand ein Buch über Sie schreibt. Sondern
Sie wollen selbst schreiben.
| Kampusch: Ja, ich werde vielleicht oder
auch nicht ein Buch über mich schreiben. Aber ich möchte auf
keinen Fall, dass irgendwer anders sich als Experte über mein Leben
ausgibt. Wenn, dann schreibe ich das selbst.
|
ORF:
Was wollen Sie in diesem Buch erzählen?
| Kampusch: Das weiss
ich noch nicht, da ich noch überhaupt nicht sicher bin, ob ich je
ein Buch schreiben werde.
|
ORF:
Auf der Titelseite einer Zeitung habe ich gelesen: "Natascha
Kampusch, das begehrteste Gesicht der Welt". Ist dieses enorme mediale
Interesse ein bissel zu viel für Sie?
| Kampusch: Was heisst da
"ein bissel zu viel"!? Ja, schon. Aber auf der anderen Seite ist mir
dadurch klar geworden, dass ich durch diese Berühmtheit und,
wie Sie gesagt haben, mit dem begehrten Gesicht, dass ich dadurch
eine gewisse Verantwortung habe und die auch nützen möchte.
Mir ist klar geworden, dass man das nicht einfach so verstreichen lassen
sollte. Sondern dass man das auch zu seinem eigenen Vorteil und zu dem
Vorteil von vielen Menschen, denen man helfen kann ... Also ich plane,
eine Foundation zu gründen. Wo ich gewisse Hilfsprojekte aufstellen
möchte, die sich mit der Thematik von zum Beispiel verschwundenen
Leuten, die nie gefunden worden sind, so wie ich ...
|
ORF:
Sie haben gesagt, dass Sie einen Teil der Spendengelder auch
für etwas spenden wollen. Was schwebt Ihnen da vor?
| Kampusch: Es
geht dann auch noch um diese verschleppten, missbrauchten und gefolterten
und ermordeten jungen Frauen, die in Mexiko verschwinden. Da gibt es
eine gewisse Gegend, wo sehr viele Frauenmorde passieren. Da werden
die Frauen vor oder nach der Arbeit gekidnappt und auf brutalste
und bestialischste Art und Weise misshandelt. Und da möchte ich
auch eingreifen. Ich möchte das Geld dazu verwenden, um weitere
Fälle zu verhindern. Und ferner plane ich, da ich ja weiss, wie
entwürdigend und unmenschlich es ist, andere Leute hungern zu
lassen ... Ich möchte, dass Hunger leidende Menschen sozusagen
... Ich möchte ein Programm aufbauen, dass die Leute sich selbst
helfen können, den Hunger zu bekämpfen.
|
ORF:
Sie haben vorher gesagt, dass Sie aus eigener Erfahrung kennen,
was Hunger heisst. Was meinen Sie damit? Wollen Sie uns darüber
etwas erzählen?
| Kampusch: Ich habe in meiner Gefangenschaft auch
sehr oft gehungert. Und hab' dadurch auch miterlebt, was man da alles
hat: Kreislaufbeschwerden, Konzentrationsschwierigkeiten. Man ist nur
noch zu den primitivsten Gedanken fähig. Man kann sich gar nicht
mehr auf irgendetwas fixieren. Jedes Geräusch, jedes Kratzen
ist schon so aufreibend und schmerzend. Jeder Gedanke quält
sich aus einem heraus. Und ich kann mir vorstellen, dass diese Leute
unmenschliche Qualen durchmachen müssen. Und deswegen möchte
ich mich dafür einsetzen, dass die zumindest, ja, zumindest dass
die Kinder dort was Gutes zum Essen kriegen. Wir tun immer so, als
wenn wir so gescheit wären. Aber wenn wir das ganze Essen nicht
hätten, dann würden wir auch blöd sein. Ich meine,
es lässt sich ja leicht reden: Die roden dort die Wälder und
so. Aber wenn man einen irrsinnigen Hunger hat: Was soll man sonst tun?
Man kann ja nicht mehr denken, wenn man nichts zum Essen hat.
|
ORF:
Sie haben in Ihrem Brief an die Medien symbolhaft geschrieben,
er habe Sie auf Händen getragen und mit Füssen getreten.
| Kampusch: Ja.
|
ORF:
Sie seien aber gleich stark gewesen.
| Kampusch: Ja, das war seine
Formulierung. Das hat man eh gemerkt, dass das ein bisschen hakt. Ich
finde ja eher, dass ich stärker war.
|
ORF:
Inwiefern?
| Kampusch: Na ja. Er hatte einfach eine labile
Persönlichkeit. Ich hatte dadurch, dass ich früher ein
sehr gesundes soziales Umfeld hatte, eine - na ja - nicht unbedingt
glückliche, aber dafür eine liebevolle Familie. Also beide
Eltern haben mir immer wieder glaubhaft versichern können, dass sie
mich lieben. Und er hatte so was nicht. Ihm fehlte in gewisser Weise
so etwas wie Selbstsicherheit. Diese ... diese Geborgenheit. Das hat
ihm gefehlt.
|
ORF:
Das muss aber auch im Laufe der Zeit passiert sein, dass Sie sich
dessen bewusst geworden sind.
| Kampusch: Im Prinzip war ich mir schon
innerhalb der ersten paar Stunden nach meiner Entführung dessen
bewusst, dass ihm etwas fehlt. Dass er ein Defizit hat.
|
ORF:
Frau Kampusch, wollen Sie uns erzählen, was an diesem
Morgen, dem 2. März 1998, passiert ist?
| Kampusch: Ja. Möchte
ich. Also ich bin in der Früh aufgestanden. Hab' natürlich noch
nicht geahnt, was passiert. Ich war sehr traurig. Es gab am Abend eine
Auseinandersetzung mit meiner Mutter. Weil mein Vater mich zu spät
nach Hause brachte.
|
ORF:
Und das schon öfters vorkam, dass ...
| Kampusch: Ja. Meine
Mutter war vordringlich auf meinen Vater böse. Aber irgendwie
auch auf mich. Und ich hab' ... ich war sehr traurig darüber,
weil ... es war nicht der erste diesbezügliche Streit und so.
Übrigens: Was mit dieser Auseinandersetzung geschildert wurde in
den Medien, dass meine Mutter mir eine Watschen gegeben haben soll, das
stimmt nicht. Oder jedenfalls nicht in der Form, wie das in den Medien
geschildert wurde. Ich war einfach nur so geknickt. Bevor ich aus der
Wohnungstür gegangen bin, habe ich mir noch gedacht ... Meine Mutter
hat nämlich diesen Merksatz, dass sie meinte: Man soll nie böse
auseinander gehen. Man soll sich immer vertragen. Denn es könnte
ja ihr oder mir etwas passieren, und wir sehen uns nie wieder.
|
ORF:
Was ja fast passiert wäre.
| Kampusch: Und ich dachte mir an
der Tür noch: Mir ist eh bis jetzt nichts passiert. Also vertrag
ich mich zum Trotz jetzt extra nicht mit meiner Mutter. Ich bin dann den
Schulweg gegangen bis zu dieser ... bis zur Melangasse. Und aus einigen
Metern Entfernung habe ich ihn schon bei seinem Auto stehen gesehen. Ich
dachte mir noch, ich wechsle die Strassenseite. Ich weiss auch nicht. Aus
irgendeinem Bauchgefühl heraus, vermutete ich ... Ich weiss nicht. Es
war mir einfach unangenehm. Was man über diese "Kinderverzahrer"
gehört hat in der Schule. Ich weiss auch nicht, warum. Und dann hab'
ich aber dieses Bauchgefühl meiner emotionalen aufgeladenen Stimmung
zugeschrieben. Und bin einfach ... Ich dachte: Der wird dich schon nicht
beissen. Und bin einfach weitergegangen. Und er packte mich. Ich versuchte
zu schreien. Aber es ist nicht ... Es kam kein Laut raus.
|
ORF:
Wie war ... Hat er da auch etwas zu Ihnen gesagt? Hat er da schon
mit Ihnen gesprochen?
| Kampusch: Also bei dem Reinzerren und ... Also
bevor er ... also während des Startens hat er schon gesagt, dass es
... dass mir nichts passiert oder so, wenn ich das mache, was er sagt. Und
dass ich ruhig sein soll. Und mich nicht rühren soll. Und dann,
später, also ein paar Minuten später hat er dann schon gesagt,
dass es angeblich eine Entführung ist. Und wenn meine Eltern was
zahlen, dann könnte ich noch am selben Tag oder am nächsten
Tag wieder zu Hause sein.
|
ORF:
Haben Sie den Weg dann real mitbekommen? Da müssen Sie ja
unglaubliche Ängste ausgestanden haben.
| Kampusch: Ich hatte vom
ersten Moment an eigentlich überhaupt, ausser den schlimmsten
Befürchtungen, was er mit mir anstellen könnte, keinerlei
Angst. Im Gegenteil. Ich dachte mir: Der bringt dich sowieso um. Also
kannst du deine letzten paar Stunden, Minuten oder was auch immer noch
gezielt nützen, um wenigstens zu versuchen, irgendetwas daraus zu
machen. Zu fliehen oder auf ihn einzureden oder so irgendwie.
|
ORF:
Haben Sie auf ihn eingeredet?
| Kampusch: Na ja. Ich habe ihm gesagt,
dass das nichts wird und dass Unrecht nie gedeihen wird. Und dass die
Polizei ihn schon schnappen wird und so.
|
ORF:
Wie war das dann beim Haus? Wollen Sie darüber sprechen?
| Kampusch: Beim Haus war's dann so, dass ich ihn, weil ich mir dachte,
vielleicht kann ich irgendwelche Einzelheiten des Hauses erkunden,
vielleicht kann ich irgendwas erkennen, um es später dann der
Polizei ... Ich war zu dem Augenblick, zu diesem Zeitpunkt noch sicher,
dass mich die Polizei finden und befreien wird. Und dass das ein gutes
Ende nehmen wird.
|
ORF:
Wollen Sie beschreiben, wie das war, als Sie das erste Mal den
Kellerraum gesehen haben?
| Kampusch: Ja, also das erste Mal habe ich
den Kellerraum überhaupt nicht gesehen. Weil es dort stockdunkel
war. Es war keine Lampe eingeschraubt. Die brachte er erst nach einigen
Minuten oder, ich weiss nicht, nach einer halben Stunde.
|
ORF:
Sie waren zuerst im Stockfinsteren?
| Kampusch: Ja, genau. Ich
war sehr verzweifelt und sehr wütend und habe mich darüber
geärgert, dass ich die Strassenseite nicht gewechselt habe oder dass
ich nicht mit meiner Mutter in die Schule gegangen bin. Das war furchtbar.
Vor Un-Macht auch. Dieses Weinen vor Un-Macht, dass man nichts dagegen
machen kann.
|
ORF:
Wollen Sie uns erzählen über die Stille, die dort
geherrscht haben muss? Wie haben Sie denn das damals als zehnjähriges
Mädchen gespürt?
| Kampusch: Dort war ein Ventilator. Ich konnte
dieses ewige Geräusch des Ventilators am Anfang überhaupt
kaum ertragen. Das ist mir dermassen auf die Nerven gegangen. Es war
furchtbar. Und ich habe beinahe klaustrophobische Zustände bekommen
in diesem kleinen Raum und schlug mit Mineralwasserflaschen an die
Wände oder mit den Fäusten. Und ja, ich weiss nicht. Auch damit
irgendwer mich vielleicht hört oder so. Ich weiss nicht. Es war
... es war grauenvoll. Und wenn er mich nicht irgendwann einmal rauf ins
Haus genommen hätte, damit ich ein bisschen mehr Bewegungsfreiheit
hab' ... Ich weiss nicht, ob ich dann nicht wahnsinnig geworden wäre.
|
ORF:
Können Sie sich erinnern, wann dieser Moment war, dass er
Sie ins Haus hinaufgenommen hat? War das nach Jahren oder nach ein paar
Monaten?
| Kampusch: Nein, das war nach einem halben Jahr. Da durfte ich
dann immer zum Waschen rauf. Also Baden im Badezimmer und so.
|
ORF:
Aber ein halbes Jahr waren Sie nur in dem Keller?
| Kampusch: Ja.
|
ORF:
Wie haben Sie sich über die Aussenwelt informiert? Was haben
Sie mitbekommen?
| Kampusch: Am Anfang eben nicht viel. Die ersten zwei
Jahre hab' ich keine Nachrichten sehen dürfen. Er hat gemeint,
dass vielleicht auch etwas über mich gebracht würde. Was mich
aufregen könnte oder ... Ich weiss nicht, was für Gründe
er hatte, warum er mir keine Nachrichten zeigte.
|
ORF:
Nach zwei Jahren haben Sie dann Radio bekommen. Was noch? Wie
ist das dann weitergegangen?
| Kampusch: Na ja, also nach zwei Jahren
habe ich einfach die Nachrichten im ORF oder so gehört. Nicht,
dass ich mich einschmeichle! Zeitungen hab' ich eigentlich am Anfang
nur Wochenzeitungen bekommen. Und dann durfte ich schon auch Zeitungen
lesen. Er hat's gelesen, ich hab's gelesen. Dann hat er jede einzelne
Seite durchgeblättert, ob ich nicht was draufgeschrieben hab'. Das
war seine Paranoia. Überhaupt, er hat immer alles kontrolliert. Und
untersucht, dass ich ja keine Botschaft schreibe oder so. Oder Nachrichten
verschlucke, die ich dann wieder irgendwie ... Ich weiss auch nicht. Er
war sehr paranoid.
|
ORF:
Haben Sie Geburtstag, Weihnachten, Ostern gefeiert? So die grossen
Feiertage auch für eigentlich auch einen, eine Jugendliche?
| Kampusch: Ja. Ich hab' Geburtstag, Weihnachten und Ostern gefeiert.
|
ORF:
Haben Sie das auch mit Herrn Priklopil gefeiert?
| Kampusch: Ja,
sicher hab ich's mit dem Herrn Priklopil gefeiert! Ich hab' ihn dazu
genötigt, das mit mir zu feiern. Ja, er hat mir viele Sachen
geschenkt. Ostereier oder Weihnachtsgeschenke und so. Schliesslich war
das einfach ... Andere Kinder und Jugendliche können sich etwas
kaufen. Ich konnte mir dort natürlich nichts kaufen. Und er war
offenbar der Meinung, dass er mir wenigstens in dieser Art eine gewisse
Entschädigung oder Gleichberechtigung mit den anderen Menschen
draussen in der normalen Realität gibt.
|
ORF:
Da sagen Sie etwas sehr Interessantes. Glauben Sie, hatte er
ein schlechtes Gewissen?
| Kampusch: Ja, schon sehr. Sehr. Irgendwie
war das so zwiespältig. Ich glaube, er hatte ein sehr starkes
schlechtes Gewissen. Aber er versuchte, es massivst zu verdrängen
und abzuleugnen. Und gerade das hat sozusagen gezeigt, dass er ein
schlechtes Gewissen hat.
|
ORF:
Sie waren nicht immer allein in dem Haus. Es war ja auch oft die
Mutter von Herrn Priklopil da. Haben Sie das mitbekommen? Wie haben Sie
das mitbekommen?
| Kampusch: Ich habe es mitbekommen, indem er vorher
erzählt hat, dass seine Mutter kommt. Und nachher war dann halt
das Haus oben blitzeblank geputzt. Manchmal waren auch Sachen, die sie
brachte, dort. Und vorgekochtes Essen oder so. Ja, einfach alles. Ich hab'
es einfach bemerkt.
|
ORF:
Sie haben vorher gesagt, er wollte Meldungen verstecken über
die Suche nach Ihnen.
| Kampusch: Ja.
|
ORF:
Haben Sie gar nichts über diese Suchaktionen mitbekommen?
| Kampusch: Später dann schon. Weil ich ihm gesagt hab', dass das
nicht Recht wäre, mir diese Informationen, da sie ja mich betreffen,
zu entziehen.
|
ORF:
Hat er Ihnen über Ihre Eltern etwas erzählt?
| Kampusch: Ja.
|
ORF:
Ich meine, wie sie reagieren. Hat er Sie da unter Druck gesetzt?
| Kampusch: Ach so, nein. Er meinte, meine Eltern würden sich nicht
um mich kümmern oder nach mir suchen. Und später meinte er,
dass meine Eltern im Gefängnis gewesen wären. Was ich dann
auch erfahren habe, dass das stimmt. Weil man verdächtigte zu
diesem Zeitpunkt relativ viele Menschen, die dann in Untersuchungshaft
waren damals. Das hat er mir schon erzählt. Aber er schilderte es
mir ein bisschen überzeichnet und übertrieben. Aber ich hab'
natürlich gleich gewusst, dass das nicht der Fall ist, dass meine
Eltern jetzt im Knast sitzen.
|
ORF:
Sie haben ihm nicht geglaubt.
| Kampusch: Nein.
|
ORF:
Ich war mehrmals nach Ihrem Verschwinden in Ihrem Kinderzimmer.
Ihre Mutter hat es mir gezeigt. Könnten Sie sich vorstellen,
dorthin zurückzukehren? Mit all den Erinnerungen, die dort sind
an die Zeit vor der Entführung?
| Kampusch: Also leben werde ich,
glaube ich, nicht mehr dort. Aber ich werde ab und zu bei meiner Mutter
in dem Zimmer übernachten. Und jetzt ... Also meine Mutter hat es
nicht fertig gebracht, die Tapeten umzufärben. Aber jetzt haben
sie es gemacht. Mit Überwindung haben sie vor ein paar Monaten den
Teppich rausgerissen, den alten grauen. Ich hab' ihn sowieso irrsinnig
gehasst. Er war äusserst hässlich. Und einen neuen Teppich,
ich glaube, grün oder so. Und meine Nichte darf ab und zu bei
meiner Mutter übernachten. Die Tapeten sind orange oder so. Und
jetzt gefärbt. Frisch. Weil meine Mutter hat es eben nicht über
sich gebracht, das zu machen. Sie hat die Möbel zwar schon von den
Wänden gestellt. Aber hat lange gezaudert, bis sie ... Sie konnte
es einfach nicht. Sie hat es einfach nicht über sich gebracht, die
Tapeten ... Weil sie nicht wusste, ob mir die Farbe gefallen würde,
die neue.
|
ORF:
Frau Kampusch, Sie haben öfter auch mit Herrn Priklopil das
Haus verlassen.
| Kampusch: Ja.
|
ORF:
Wie war das? Wie hat er sich da verhalten?
| Kampusch: Na ja, er
war sehr vorsichtig. Ist kaum von meiner Seite gewichen. Hat jedes Mal
panikartige Zustände bekommen, wenn ich auch nur drei Zentimeter von
ihm entfernt gestanden bin. Er wollte immer, dass ich vor ihm gehe und nie
hinter ihm. Damit er mich immer im Auge behalten kann. Und ich konnte
mich keiner Menschenseele anvertrauen. Weil er drohte mir immer damit,
dass er den Menschen etwas antun würde, wenn ich etwas sage. Dass
er sie umbrächte. Jeden Mitwisser sozusagen beseitigen würde.
Und das konnte ich nicht riskieren.
|
ORF:
Wie war denn das für Sie, wenn Sie es sich jetzt überlegen:
Sie haben eigentlich viele Menschen getroffen. Einige. Denen haben Sie
in die Augen geschaut.
| Kampusch: Ja, schon. Es gab auch viele Menschen,
denen ich versucht habe, Zeichen zu geben. Es gab auch schon viele Sachen,
wo es eigentlich ... Die Leute denken natürlich in dem Moment nicht
an so was. Und kommen nicht auf die Idee. Ich hab' zum Beispiel in einer
Zeitung gelesen, dass dieser Mann ... Das stimmt auch. Weil ich mich
an diese Begebenheit erinnern kann. Viele Sachen stimmen natürlich
nicht. Ich habe gelesen, dass ...
|
ORF:
In Oberösterreich?
| Kampusch: Das war aber nicht in
Oberösterreich.
|
ORF:
Aber diese Geschichte: Sie waren wirklich in einem Geschäft und
haben versucht, mit dem Verkäufer Kontakt aufzunehmen.
| Kampusch:
Ja, mit vielen Leuten. Aber generell ... Ich konnte denen ... Also es
war nicht genug Zeit, dass ich denen das erläutere. Hätte ich
auch nur einen Mucks gemacht, hätte er das schon unterbunden und mich
weggezerrt oder ... Selbst wenn es dann zu spät gewesen wäre,
hätte er die Person umgebracht oder mich umgebracht. Oder was
auch immer. Ich musste immer mit der ... Ja, es war furchtbar. Aber wo
... Sie haben mich jetzt abgebracht von dem Thema. Was haben wir zuerst
gerade gesprochen?
|
ORF:
Eigentlich schon über das.
| Kampusch: Schon, aber was haben
Sie genau gesagt?
|
ORF:
Als Sie das Haus verlassen haben. Sie haben ja Menschen getroffen.
| Kampusch: Ja, genau.
|
ORF:
Wie war das, wenn Sie denen in die Augen geschaut haben?
| Kampusch:
Ja, beispielsweise die netten ... Diese netten Verkäufer im Baumarkt
zum Beispiel. Die einen dann so fragen: Kann ich Ihnen vielleicht
helfen? Und ich steh' da so panikartig und verklemmt und mit Herzklopfen
und Kreislaufproblemen dort. Und kann mich kaum rühren. Und ich muss
dann so hilflos zuschauen, wie der den Verkäufer abwimmelt. Und hab'
gerade noch die Möglichkeit, den Verkäufer anzulächeln,
weil er so freundlich ist. Ich meine, der weiss das ja nicht. Und ... ja.
Es ist ... Ich hab' nämlich immer versucht, ein bisschen so zu
lächeln, wie ich auf den Fotos ausschaue, damit die Leute sich an
mein Bild erinnern. Weil auf Fotos lächelt man ja meistens. Ja. Also
... Es war manchmal wirklich ... Und ich hab' am Anfang auch die Menschen
nicht so vertragen. Ich war es ja nicht gewohnt. Und viele Menschen sind
sehr missmutig und feinselig. Das ist natürlich auch sehr unangenehm.
|
ORF:
Wenn Sie wollen - ich hab' nur die Frage. Wenn Sie sie nicht
beantworten wollen, sagen Sie sofort stopp. Nur um das zu verstehen.
Dieses Verhältnis zu Herrn Priklopil, der auf der einen Seite Sie
total überwacht hat.
| Kampusch: Ja.
|
ORF:
Der Sie kontrolliert hat. Sie entführt hat.
| Kampusch: Ja.
|
ORF:
Wie war sein Wesen? Wie war er? Wenn man jeden Tag mit diesem
Menschen zu tun hat ... haben muss.
| Kampusch: Hin und wieder hat er
mir sogar sozusagen in gewisser Art und Weise vorgeschlagen, wie ich ihn
sozusagen hintergehen könnte und fliehen könnte. Also innerhalb
von seiner Paranoia ist ihm das sozusagen eingefallen. Es war fast so,
als würde er absichtlich wollen, dass irgendwann ... dass ich
irgendwann einmal frei bin. Dass es schief läuft. Irgendwie, dass
die Gerechtigkeit siegt oder so.
|
ORF:
Was war dann am Tag der Flucht anders als sonst? Wo Sie sich immer
so bedroht gefühlt haben?
| Kampusch: Ich wusste in dem Moment,
wenn nicht jetzt, dann vielleicht nie mehr wieder. Ich hab' geschaut. Er
hat sich umgedreht. Ich hab' ihm in den Monaten davor auch schon gesagt:
Ich kann so nicht mehr leben. Ich werde sicherlich versuchen, von dir
zu fliehen. Und ... Ja, ich dachte mir: Wenn nicht jetzt ... Ich hatte
auch eine irrsinnige Sorge, seiner Mutter und seinen näheren
Freunden und Nachbarn und Bekannten ihr Weltbild zu ruinieren. Und zu
zerstören. Weil schliesslich ... Sie wissen eh, er war sozusagen
der nette, hilfsbereite Typ. Immer freundlich, immer korrekt. Ich wollte
das auch seiner Mutter nicht antun, dass sie diese andere Seite von ihrem
Sohn kennen lernt. Da das schon sehr durchgedrungen ist zu mir, dass sie
ein sehr gutes Verhältnis zu ihm hat. Dass sie ihn sehr liebte und
er auch sie mochte. Sehr. Ja. Und es tut mir auch jetzt irrsinnig Leid
für die Frau Priklopil. Dass dieses Bild sozusagen zerstört
ist. Und sie hat ihren Glauben an die Welt verloren an diesem Tag. Und
ihren Glauben an ihren Sohn. Und ihren Sohn auch. Und der Herr Priklopil
hat an diesem Tag sowohl mich ... Ich war mir ja völlig bewusst, wie
ich geflohen bin, dass ich damit auch ihn zum Tode verurteile, weil er
mir immer mit Selbstmord drohte. Er hat sowohl mich als auch den Herrn,
der ihn zu dem Bahnhof fuhr, und auch den Schnellbahnschaffner indirekt
zu Mördern gemacht.
|
ORF:
Wie haben Sie es gelernt, in diesen acht Jahren mit dieser
Einsamkeit umzugehen?
| Kampusch: Ja, also ich war nicht einsam. In
meinem Herzen war meine Familie. Und glückliche Erinnerungen
waren immer bei mir. Und ich hab' mir eines Tages geschworen, dass ich
älter werde, stärker und kräftiger, um mich eines Tages
befreien zu können. Ich hab' sozusagen mit meinem späteren
Ich einen Pakt geschlossen. Dass es kommen würde und das kleine
zwölfjährige Mädchen befreien würde.
|
ORF:
Das war immer Ihr Traum während dieser acht Jahre? Von was haben
Sie denn da geträumt?
| Kampusch: Nein, ich habe eher so Gedanken, was
mir alles entgangen ist: der erste Freund, alles Mögliche. Ich hab'
versucht, beispielsweise immer besser zu sein als die Leute draussen. Oder
mit ihnen gleichzuziehen. Vor allem was die Schulbildung betrifft.
Ich hatte immer das Gefühl, dass ich ein sehr starkes Defizit habe.
Einen Mangel. Und das wollte ich immer irgendwie ausgleichen. Und deswegen
habe ich versucht, mir Wissen anzueignen. Und mich selbst zu bilden. Und
mir Fertigkeiten beizubringen. Ich hab' mir zum Beispiel im Selbststudium
Stricken beigebracht.
|
ORF:
Jetzt können Sie Ihren Träumen freien Lauf lassen.
| Kampusch: Ja.
|
ORF:
Was sind Ihre Träume?
| Kampusch: Na ja. Jetzt sind wir wieder
bei diesen Träumen!
|
ORF:
Möchten Sie die Welt sehen?
| Kampusch: Ja, ich möchte
reisen. Ich möchte reisen. Ich dachte mir - beispielsweise mit meiner
Familie eine Kreuzfahrt. Ausserdem freue ich mich auch schon, sollte
ich die Matura bestehen, auf eine Maturareise. Aber natürlich
nicht mit Alkohol und Grölen, sondern schon eine schöne.
Also nicht dieses Sommer-Splash oder so! Mit "all inclusive". Sondern
eher schon etwas Schönes.
|
ORF:
Meer, Strand, Sonne.
| Kampusch: Ja, so in der Art.
|
ORF:
Gibt es ein Lieblingsziel?
| Kampusch: Nein, aber es ist erstaunlich
... Ich hab' in meiner ... in den letzten Tagen festgestellt, dass wir,
ich und meine Schwestern, uns nicht sehr unähnlich sind. Wir haben
sehr viele ähnliche Eigenschaften, Wünsche und Bedürfnisse.
Es ist komisch. Ich hab' bei der Polizei mit meiner Schwester, wie ich
sie zum ersten Mal wiedergesehen habe, darüber gesprochen, dass
ich einmal in den Zug steigen und in Berlin aussteigen möchte. Sie
hat gesagt, sie hat diese Reise bis jetzt noch nicht gemacht, weil meine
andere Schwester das nicht mit ihr machen wollte. Und sie hat gemeint:
Jetzt hat sie wenigstens jemanden, mit dem sie das machen kann.
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Quelle: Kurier.