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www.rhetorik.ch aktuell: (16. November, 2005)

Krisenkommunikation in der Praxis: Giftanschlag im Bodensee

Bodenseegebiet Wasserversorgung
Die Bevölkerung wurde erst am Montag, dem 14. November 2005 über den Giftanschlag auf die Bodensee-Wasserversorgung (BWV) informiert. Es war zu erfahren, dass zwei offene Plastikanister bei der Ansaugstelle des Bodenseetrinkwassers versenkt worden waren. Die Gefässe wurden bereits am Mittwoch, dem 9. November entdeckt und untersucht. Die Begründung des Stillschweigens war: Aus ermittlungstaktischen Gründen sei die Bevölkerung nicht informiert worden. Man habe die Bevölkerung nicht unnötig beunruhigen wollen. Wie zu erfahren war, erhielt die BVW sogar schon am 18. Oktober einen anonymen Drohbrief. Der Autor drohte bereits in diesem Schreiben, er werde das Wasser im Bodensee mit Pflanzenschutzmitteln vergiften.

Eine Gesundheitsgefahr durch zwei Fünf-Liter-Kanister mit giftigen Pflanzenschutzmitteln, die der Täter nahe der Trinkwasserentnahmestelle in einer Tiefe von 60 Metern bei Sipplingen versenkt hatte, habe zu keiner Zeit bestanden, betonte am Montag BWV-Geschäftsführer Hans Mehlhorn. Die im Wasser gefundenen Substanzen, beispielsweise Atrazin, hätten nie die Grenzwerte überschritten. Das Wasser war jederzeit einwandfrei, behauptete er. Der Wert lag unter der Toleranzgrenze von 0.1 Millionstel Gramm pro Liter. Bei einigen Messungen lag der Wert nur ein wenig oberhalb des Grenzwertes, war zu vernehmen. Die Bodensee-Wasserversorgung richtete ein Hotline ein. Nach der Medienmittelung erfolgte ein enormer Ansturm. Die Bevölkerung wurde begreiflicherweise in Angst und Schrecken versetzt. Mütter wollten wissen, ob Kinder das Wasser trinken dürfen. Eine häufig gestellte Frage lautete: Können die Bodenseefische ohne Bedenken gegessen werden? Usw. Was Krisenmanager beachten sollten: Die Internetseite des BWV-Zweckverbands brach rasch zusammen.

Die Polizei ist am Montag einem tatverdächtigen Landwirt auf die Spur gekommen. Etwa 40 Beamte durchsuchten am Montag den Hof des Mannes im Raum Ravensburg. Möglicherweise habe der Bauer die Tat als Racheakt gegen die Justiz begangen, teilten die Staatsanwaltschaft Konstanz und die Polizei Friedrichshafen am Montag bei einer Pressekonferenz in Friedrichshafen mit. Er habe sich ungerecht behandelt gefühlt. Ein terroristischer Hintergrund sei ausgeschlossen.

Das Krisenmanagement bei diesem Vorfall hat uns interessiert:

1. Zum Mentoring

Wie wurde das Frühwarnsystem aufgebaut? Wir gehen davon aus, dass die zuständigen Instanzen in ihren Krisenszenarien auch diesen Fall antizipiert hatten. Uns erstaunte anderseits die Bemerkung: Dieser Fall sei ein Novum. So etwas sei bisher unvorstellbar gewesen. Spätestens nach dem anonymen Schreiben hätte die Kerngruppe des Krisenstabes die Arbeit aufnehmen müssen. (Sofortmassnahmen, Überwachung, vorbehaltene Entschlüsse usw.)

2. Das Abschätzen der Risiken

Wie wurde dieser Anschlages im Issue Management eingeordnet? Wurde ein Issues-Profiling erstellt? Das heisst, wurden verschiedenste Szenarien nach Risiken analysiert?
  • Wahrscheinlich - weniger wahrscheinlich?
  • Gefährlich - weniger gefährlich?
  • Was wird besonders heikel?

3. Zum Informationsmanagement.

Wie wurde nach dem Anschlag die Information gehandhabt? Wie wurde informiert? Welches war die Kernbotschaft? Wie wurde argumentiert? Gab es widersprüchliche Aussagen oder werden noch Widersprüche auftauchen? Zusammenarbeit mit den Medien? Koordination? Wie verhalten sich heute die Medien?


Kommentar: Bereits am Montagnachmittag stellten wir fest, dass trotz beschwichtigten Informationen unzählige Menschen wissen wollten, ob das Wasser nicht doch die Gesundheit schädigen könnte- ist es beispielsweise ein Gefahr für Kleinkinder?

Der Ansturm von Anfragen im Internet ist aufgrund der Panne bestimmt nicht richtig vorbereitet worden. Das bestätigt der Zusammenbruch. Es ist kaum auszudenken, wie die Information bewältigt worden wäre, wenn der Anschlag katastrophale Folgen gehabt hätte. Die verantwortlichen Krisenmanager müssen später nochmals über die Bücher.


Der Bodensee hat eine Fläche von 536 Quadratkilometer. [ Google map der Region] Er ist Trinkwasserreservoir für 4.5 Millionen Menschen. Die Bodenseewasserversorgung schickt das Wasser durch Leitungen mit einer Gesamtlänge von 1'700 Kilometern bis in den Norden Deutschlands. Die 1954 gegründete BWV versorgt 320 Städte und Gemeinden. Entnommen wird das Wasser aus dem nordwestlichen Teil des Bodensees bei Sipplingen in rund 60 Meter Tiefe. Sechs Pumpen bringen das Wasser mit einer konstanten Temperatur von vier bis fünf Grad auf den rund 300 Meter hohen Sipplinger Berg, wo es gereinigt und aufbereitet wird. Die Behälter, bei denen der Schraubverschluss fehlte, lagen in rund 60 Meter Tiefe nahe der Ansaugstation für das Trinkwasser.

Quellen: Handelsblatt, Stuttgarter Zeitung, Bilderquellen: http://www.zvbwv.de



Eine Vergiftung des Trinkwassers ist keine Bagatelle: Bis zu vier Millionen Menschen wären potenziell betroffen. Die Bodensee-Wasserversorgung versorgt mit ihrer Entnahmestelle Sipplingen im Nordwestarm des grössten deutschen Binnengewässers eigenen Angaben zufolge rund vier Millionen Menschen mit jährlich 131 Millionen Kubikmetern Trinkwasser. Eine Fernwasserleitung bringt das Wasser nach der Aufbereitung unter anderem in den Grossraum Stuttgart und in den Nordschwarzwald. Bodenseewasser wird auch an anderen Punkten auf deutscher und schweizerischer Seite entnommen und zu Trinkwasser aufbereitet. Die Behörden beruhigten in den jüngsten Pressemitteilungen: - Das Wasser werde ständig kontrolliert - Bei einer Vergiftung würde die Zufuhr sofort gekappt - Die Reaktionen der Fische in einem Zwischenbehälter würden laufend beobachtet.




daphne pulex Nachtrag vom 20. November 2005: Situation in der Schweiz:

In der Schweiz die Vergiftung des Trinkwassers nicht gut möglich sein. Die Wasserfloh "Daphne" soll auf Verunreinigungen empfindlich reagieren. Sie wird an einigen Orten gleichsam als "Warnsystem" eingesetzt. Reservoirs hätte zudem Alarmanlagen, die vor Einbruch sichern. Die ländlichen Wasserversorgungen sollen hingegen weniger gut geschützt sein.

Übrigens: In der Rhetorik gibt es auch den Begriff des Brunnenvergiftens. Bei der rheotorischen Brunnenvergiftung wird vornherein eine denkbare Diskussionsposition oder jemand, der diese teilt, möglichst stark verunglimpft, bevor diese überhaupt zur Disposition gestellt werden kann.


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